Alle Artikel in: Bücher

Kein Blatt vor den Krieg:
Yevgeniy Breyger und Elisabeth Raffauf

Er liest den Deutschen die Leviten. Sie hilft, die Hand halten. Rein äußerlich haben die beiden Bücher auf meinem Schreibtisch nichts gemein: Das großformatige Kinderbuch „Wann ist endlich Frieden?“ von Elisabeth Raffauf, mit zurückgenommenen Farben schön illustriert von Günther Jakobs – und der Lyrikband, „Frieden ohne Krieg“ von Yevgeniy Breyger, bisschen größer als A5, Hardcover mit Leinenoptik, der Vorsatz neonorange. Dasselbe Thema. Krieg, weltweit und hier, nicht so weit, 1000 km von meinem Schreibtisch, in der Ukraine. Geboren ist der Lyriker in Charkiw – 21 Tage nach unserem Sohn – und ist derzeit in Frankfurt zuhause. Lese ich „Charkiw“ höre ich die Stimme der Reporterin, die von den Menschen unterm Krieg berichtet. Er startet mit seiner Stadt, sie ist oder war viel größer als Frankfurt. Und gleich diese Grausamkeit, dieser Hass auf die Frauen, dieses Kriegsbenzin, das auch in den Bildern und Gräueln aus Israel so entsetzt. Tagesgedichte. Rückblick und voraus, Handkamera, schnell zu lesen, wie live. Stadt- und Landgedichte, Krieg im Jetzt-Gedichte. Dicht, hart, deutlich. Lustig manchmal auch und zart. Nageln einen fest: Was …

Genutzt: Reinhard Witt –
Das Wildpflanzen Topfbuch I und II

Bunt und prächtig – so soll Balkon. Am liebsten den ganzen Sommer lang. Aber, bitte auch pflegeleicht – und da geht’s schon los. Denn Vielblüher muss man viel düngen und vor Vielfraßen schützen… Bei den aktuellen Wetterlagen gibt es außerdem gerne mal erst zu viel Sonne oder Regen, dann zu wenig, oder umgekehrt. Wer also sind beste Balkonfreunde? Reichlich bunte Ratgeber haben dazu reichlich bunte Ideen. Nur die Wilden kennen sie nicht. Unsere einheimischen Schönheiten, denen nichts so leicht den Garaus macht – und die zusätzlich einen ziemlich angesagten Wunsch erfüllen: Wildbienen erfreuen. Wer das wirklich will sollte sich Reinhard Witts Topfbücher anschaffen. Sollte? Muss! Wo andere vielleicht – so wie ich früher – zwischen Impatiens, Fuchsie und Kapuzinerkresse Krimi lesen, sitze ich heute zwischen Lichtnelke, Frauenspiegel und Flockenblume mit meinen lila Witt-Büchern und träume. Oh! und Ah! seufzend, was alles möglich wäre! Möglich ist! Nur noch eben einen neuen Plan machen und dann dies säen, jenes pflanzen… Kann ich gar nicht genug von kriegen. Dabei habe ich schon geschluckt, als Anfang Mai das heiß …

Gelesen: Das ermordete Herz

Ein Frankfurt Krimi! Die zentrale Figur ist ein Ex-Kommissar, der nicht freiwillig in Rente ist, sondern wegen eines speziellen Zwischenfalls. Seine Frau ist krank, er befürchtet das Schlimmste, oder hofft er drauf? Wochenlang hat er sie versorgt und gepflegt – beide sind am Ende. Aufgrund der vorher über Monate hinweg durchlittenen Behandlung weigerte sie sich ins Krankenhaus zu gehen. Schließlich geht sie doch. An diesem Punkt werden die Fäden ausgeworfen, die Ulrich Mannsfeldt gelungen vertüdelt und wieder entwirrt. „Eine Ermittlung im Jahr 2040“ lautet der Untertitel, auf der Innenklappe gibts eine Zeitchronik zur Orientierung. Kleiner Auszug: 2028 – Impfstoffresistente Corona-Virusvariante. Bürgerkriegsähnliche Unruhen … 2029 – Populistische Regimes in Europa, Zerfall der EU …2032 Katastrophale Dürren und Hungersnöte in Afrika, Errichtung von Gettos… 2036 KI-Fahndungscomputer. DNA-Transplantationen … 2037 Erste Große Hitze … Ein weites und attraktives Spielfeld für einen Krimi, das Setting wirft reichlich Fragen auf. Letztlich geht es um Ethik und – was sonst – Liebe und Tod. Der Autor beschreibt eine emotional wie physikalisch aufgeheizte Zukunft, in der die Sonne nicht länger eine ersehnte …

Lesestoff: „Heiß auf Gemüse“

Mensch Jörg! Hättste das Buch nicht ein, zwei Jahre früher schreiben können? Als ich einen verwilderten Gierschgarten hatte, in dem ich einen ganzen Ahornnachwuchswald ausgerissen und dafür Apfelbäumchen und Erdbeeren, Stachelbeer- und Himbeerstrauch, ach und noch viel mehr gepflanzt habe? Aber… ob ich dann die Geburtswehen des Buchs (über unsere Nachbarin und Freundin des Autors) überhaupt mitbekommen und das Hardcover-Ergebnis jetzt in den Händen halten würde? Allem seine Zeit. Also jetzt. Erster Eindruck: wohltuend bodenständig. Frei von rosarotem Wellness-im-Garten-Gedöns, dafür charmant und authentisch. Bis hin zu den Fotos, die schon gerne ein Profi hätte machen dürfen, aber zu dem vorgestellten Prozedere durchaus passen. Jörg, der als Fernsehjournalist Gartenthemen für den mdr beackert, hat es wie viele aus der Branche gemacht die Bücher schreiben – sich einen Fachmenschen zur Seite geholt. Allerdings wurde Experte Martin Krumbein nicht erst für das Buch angesprochen, sondern begleitet Jörg und sein Gartenprojekt schon länger. Auf den Fotos sieht man sie, ein eingespieltes Team, ob beim Beetbau oder Salatpflanzen. Sie geben viele gut verständliche und übersichtlich sortierte Praxistipps: Etwa, wie man …

Meichser&Dennerlein – das letzte Konzert

Unser Buchladen ist in Rente. Jedenfalls die beiden Buchhändler, die uns so viele Welten bestellt und empfohlen, so viel Lesestoff zum Träumen, Finden und Verlieren vergeben haben. Die beiden waren 40 Jahre ein Team. Super gemacht! Immer die Ruhe selbst. Erst auf der einen Straßenseite, dann auf der andern. Der alte Laden im Altbau – das war der Klassiker. Wie aus einem Film. Man ging rein und war weg. Die Welt, sie blieb draußen. Dunkel wars da, dunkles Holz, hohe Regale. Damals war’n wir noch jung. 30 Jahre her. Als ich dort zum ersten Mal kaufte hatte der zweite Buchhändler im Bunde gerade Auszeit. Ich verbrachte Stunden dort, guckte hier, las dort zwei Seiten an, bekam was empfohlen, was mir nicht gefiel oder sehr. Und ging womöglich ohne. OMG, diese Kundin?! Was er sich wohl gedacht hat, der Herr Meichsner? Nie hat er groß was rausgelassen, immer nur leise gelächelt. Ich kam auf jeden Fall wieder. Und alle Bücher die es zu Geburtstagen, Weihnachten und Urlauben gab: Nix Amazon. Haben wir da geholt. Das haben …

Gelesen: Der Pilz am Ende der Welt

Wo anfangen? Am liebsten würde ich dieses äußerlich so schlicht wirkende Buch über diesem Bildschirm schütteln, auf dass all die Ideen, Erzählstränge und von der Autorin geteilten Lernmomente vor mir in einem rauschend bunten Wortschwarm auf und in den Text flögen. Ein mäandrisches Buch, das Licht in die Strukturen und unseligen Mechanismen des Kapitalismus zu werfen vermag. Ebenso wie in die so grundverschiedene Weise, mit der Menschen auf der ganzen Welt versuchen, ihr Leben zu meistern. Oder die Natur zu schützen, mit Ansätzen die oft so schmerzhaft kurzsichtig waren oder sind, dass sie sich in ihr Gegenteil verkehren. Roter Faden oder besser die Wegleuchte der Autorin ist der Matsutake-Pilz. Warenströme, Entfremdung á la Marx und Naturschutz anhand eines Pilzes auszuleuchten ist ungewöhnlich genug. Mehr noch überrascht mich, wie diese Wissenschaftlerin Wissen vermittelt: „Wenn ein Wirbel aufgewühlter Erzählungen am besten taugt, über kontaminierte Diversität zu erzählen, dann ist es an der Zeit, diesen Wirbel zu einem Teil unserer Wissenspraxis zu machen. Vielleicht müssen wir, die Überlebenden eines Krieges selbst so lange erzählen, bis alle unsere Geschichten …

Tracking-Literatur #2: Tierspuren Europas

  See English version below Tschacka! Jetzt gilts, dachte ich im Mai, als Joscha Grolms mir die Bestätigungsmail schickte; „Der Platz geht an Dich!“ Juppie! Gleichzeitig dachte ich aber auch: Oioi, hoffentlich übernimmste dich nicht. Meine erste Fährtenleser-Evaluation, hiermit gebucht. Bisschen Training würde nicht schaden – und das neue Buch auch nicht, aber wann kommts denn endlich?! Vorbestellt seit Februar. Erst dachte ich ja, 70 Euro… Puh. Brauch ich das? Dann versicherte mir eine Freundin, die Fotos beigesteuert, das Buch gegengelesen und somit ordentlich Einblick hatte: „Du wirst es lieben“. Bestellt. Und im Juli endlich hatte ich es dann in der Hand. Oder besser in zwei Händen, über zwei Kilo. Ein Klotz von über 800 Seiten. Kann man da noch von Handbuch reden? Doch. Ja. Und was für eins. Den Verlag hat es wohl verblüfft wie viele Tracker-Nerds es gibt – 600 Vorbestellungen warteten auf Auslieferung. Drei Monate später ist die erste Auflage von 4000 Exemplaren verkauft. Die nächste gedruckt. Und ich bin in der Lausitz. Der erste Evaluierungstag ist zu Ende. Elf Prüflinge, Evaluierer …

Liebe und Tod…

  .. alles andere ist Mumpitz. Jedenfalls bei Literatur, sagte jedenfalls MRR, Marcel Reich-Ranicki. Der Mann fällt mir immer ein, wenn ich rezensiere. Und Herrndorfer. Der fand Rezensionen hirnlos, die das besprochene Buch zusammenfassen. Oder unerträglich – den Original-Wortlaut weiß ich nicht mehr. Genauso wenig, wie ich noch weiß, was normal ist im C-Jahr. C wie Corona. Ich hab ein K-Jahr draus gemacht. K wie Krimi. Mir schon ewig nicht mehr so viele Ks reingezogen. Ermächtigungsstrategie? Für diesmal hatte ich jedenfalls die Skandianavier schnell durch. Und zwar per Film. Zu Beginn des Coronawirbels landete ich beim Zappen durch die Faktennews auf irgendeinem Kanal bei Stieg Larssons Verblendung. Erleichtert blieb ich. Genau die richtige Unterhaltungs-Dosis für diesen Abend. Nur – dass es die entkernte, amerikanische Variante war. Frustrierend. Bah! Da half nur: Sofort die echte bestellen. Nein, gleich alle drei. Und warten. Klopapier und Masken hatten ja Vorrang. Und überhaupt bestellten ja plötzlich alle alles im Internet. Irgendwann kamen die Scheiben. Die echten, mit der echten Noomi Rapace-Lisbeth. Diese Frau bedient ja nun wirklich allen Ermächtigungsbedarf, …

Stoff für Fährtenleser #1: Het Prentenboek

Das Jüngste im Trackerbuchregal – und gleich auch eins meiner Meistgenutzten: Het Prentenboek. Trotz seines stolzen Gewichts von 866 Gramm (445 Seiten) durfte es sogar mit auf die Radtour Frankfurt-München. Dafür mussten dann eben zwei andere Feldführer zuhause bleiben… Das zeigt ja schon in aller Kürze, was ich von diesem Buch halte. In jeder Hinsicht ein besonderer Band. Als er nach langem Warten (nicht einfach bei Amazon, sondern im holländischen Buchladen bestellt) endlich kam, war ich gleich gebannt. Sein großes Plus ist die Praxistiefe. Sobald ich es aufschlage, rieche ich Erde, feuchten Sand oder höre es knacken hinter mir. Krähenschreie. Bin drin – ah, draußen. Die Autoren René Nauta und Aaldrik Pot geben profundes Trackerwissen weiter. Was nicht heißt, dass alles vorkommt, was man sich als Fährtenleserin vielleicht so wünscht, aber dann wäre – mit dem Anspruch und dem Vorgehen der beiden – das Ganze wohl sehr unhandlich. Nein, Fraßspuren oder andere Zeichen und Hinterlassenschaften sind hier nicht im Blick. Dafür aber die Fußabdrücke von Säugetieren, Vögeln, Amphibien, Reptilien, und einigen anderen Tieren um so …

Buchkritik – Hiltrud Enders: Freude am Sehen

  Sollte man das Buch lesen? Ja. Bringt es neue Erkenntnisse? Nein, aber das muss es ja auch nicht. Impulse sind immer gut – ganz gleich, ob sie aus dem Archiv eines Wissenspools stammen oder ob dieses Wissen neu und mit eigenen Erkenntnissen aufbereitet wird. Das mal ultrakurz vorweg. „Freude am Sehen“ vermittelt altes Wissen, gepaart praxiserprobter eigener Erfahrung. Entstanden ist das Buch aus Workshops heraus, in denen Hiltrud Enders die Praxisanwendung von Miksang (tibetisch für gereinigtes Auge) vermittelt. Diese noch junge Schule kontemplativer Fotografie steht für eine Mischung aus Meditation plus Achtsamkeit plus Kamera. Bücher über Foto-Technik oder Bildgestaltung gibt es viele. Aber nur sehr wenige über die Auseinandersetzung mit dem Medium an sich und der Haltung, der persönlichen Einstellung, die Menschen voran bringen kann beim Fotografieren. Wenige wie dieses also. Wir waren neugierig. Hier erstmml ein Dankeschön an den dpunkt.Verlag, denn der macht immer wieder solche Bücher. Pluspunkte bekommt das neue auf jeden Fall, weil es (uns) Stoff zur Diskussion liefert. Zwei Menschen, zwei Lesarten = eine Rezension: P: (bevor das Buch bei …