Natur und Umwelt, Reportage
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Wild geworden? Ja!

Lieblingssitzplatz, Wildbienenkita, Eichhörnchenausguck = unsere Loggia im Frankfurter Süden. Dort frühstücke ich in den ersten Sonnenstahlen oft schon ab Februar – und bis in den November. Extrahighlight: Die Schriftzüge des Hotels gegenüber sind Ruheplatz eines Wanderfalkenpärchens. Dass ich hier im 5. Stock jetzt konsequent Wildblumen pflanze hat mit einer journalistischen Recherche zu tun, bei der ich auch Katharina Heubergers Blog, den Wilden Meter entdeckte. Sie ermutigte mich, übers Jahr meine Erfahrungen zu sammeln und bei ihr über mein erstes Naturbalkonjahr zu berichten. Voilá. Gerade hat sie’s online gestellt – und natürlich wollen wir das hier auch haben :D.

Vielen Dank Katha! dafür – und die vielen tollen Anregungen auf deinem Blog! Und den Ableger deiner Bergminze. Ob sie den Winter überlebt? Münchener Pflanze das, direkt vom Wilden Meter. Katha brachte sie zweimal zur Post, rückte auch dann nicht von ihrem Vorhaben ab, mich als neues Mitglied der Naturbalkonszene mit ihrem Ableger zu beglücken, als der Karton wegen Aufweichung wie Gefahrgut an sie zurückging. Aber hey! Kathamintha landete unbeschadet bei mir in Frankfurt! Ist auch fein angewachsen und reckte schon frühlingshaft die Blättchen, bis … zum Eisregen vorgestern. Hab sie sicherheitshalber mit übriggebliebenen Resten vom Weihnachtsstrauß bedeckt. Gestern kam noch Schnee hinzu… Schaunmermal. Und währenddessen: Schaun wir einfach mal zurück. Während ich also eh nicht wie sonst auf dem Balkon sitze, weil‘s schneit, das Eichhörnchen im Futterhaus schaukelt und die Meisen mein Clematis-Rankgitter nach Insektenlarven suchend aufhacken, kann ich drinnen einen Gastbeitrag für den Wilden Meter aushecken.

Zack die Schere

Vorweg ein kleiner Exkurs in die Entwicklungsgeschichte deutscher Gartenkultur. Mit der unrühmlichen Seite der Medaille bin ich groß geworden und hab es anfangs genauso gemacht wie viele andere: Drinnen den Regenwald gepflanzt und draußen jedes Jahr neue Blühwunder. Pflanzenfreak mein Zweitname. Immer schon gewesen. Hier ein Ableger und da einer. Ob eine halbtote Schefflera, ein Gliederkaktus am Straßenrand oder eine Orchidee in der Biotonne – ich nehm sie mit. Und weil ich auch keine Pflanze wegschmeißen kann, hat sich Topf um Topf bei uns eingefunden. In meiner Familie war „Garten“ eher ein Fremdwort. Meine Mutter war fix mit Ausreißen und Abschneiden. Laut Familienlegende hat eine Vermieterin ihr mal gesagt, sie müsse sich um das Grünzeug im Garten kümmern. Meine Mutter nahm eine Schere und schnitt die Johannisbeerbüsche kurz und klein. Als pubertäre Gegenreaktion begrünte ich mein Zimmer, bis sie sich nicht mehr reinwagte. Natürlich zog ich auch nicht aus ohne meine Kakteen, Farne, Maranten sowie die Fici lyrata und benjamini. Später kamen angeheiratet Ziermandarine, Yucca und Wein hinzu. In Frankfurt waren die denn auch die ersten auf diesem unserem Balkon.

Die nächste Phase bescherte uns Hortensien, Lilien und Kapuziner. Französisch-Romantisch. Einmal blühte bei uns sogar ein Oleander, den ein ausziehender Nachbar hatte stehen lassen. Mickerte aber vor sich hin, bis ich ihn verschenkte. Leider gibt es in einer Loggia viel Schattenplätze – und es heißt erfinderisch sein mit Pflanzenwahl und Standortverteilung.

Mein Herz schlägt grün

In der Gärtnerei am Fuß unserer Straße (heute ein Betonklotz mit hochpreiseigen Eigentumswohnungen in EZB-Nähe) bekam ich Erde unverpackt und durfte alte Geranien mitnehmen. Später entdeckten wir die Gärtnereien am Stadtrand in Oberrad. Betrete ich ein Gartencenter oder gar so eine Gärtnerei mit Gewächshaus verliere innerhalb von Sekunden die Kontrolle. Das Einzige, was mich dann noch aufhält, ist mein Portemonnaie. Pat dagegen, meinem Herzensmann, wird das nie zu viel. Er sagt immer nur, „Mach. Klar ist dafür Platz.“

Jahrelang pilgerten wir nach der kalten Sophie im Mai nach Oberrad, verliebten uns vor Ort in irgendeine Kombi und schleppten die Beute nach Haus. Wo ich dann ellbogentief in Erde und Grünzeug versank. Elfenspiegel, Männertreu, Mädchenaugen, Millionbells… Welcher Herkunft sie waren, darüber hab ich bis vor ein paar Jahren keinen Gedanken verloren. Gundermann, Wachtelweizen und Co waren schön, gehörten aber für mich zu Wildnis, und das war nach damaliger Definition sicher nicht unser Balkon, auch wenn der schon immer eher wild als aufgeräumt aussah.

Vielleicht hat gerade deswegen die ein oder andere heimische Pflanze ganz von selbst zu uns gefunden. Angefangen hat es mit Goldlack, Löwenmaul und Lilien sowie Frühlingsblühern. Die kamen immer wieder, dieser Platz wurde also nicht neu bepflanzt. Danach folgten Ringel- und Kornblumen aus Bienenblumensamentüten und Würzkräuter.

Der Kipppunkt kam mit den Sommerdürren. Die schönen Kapuziner oder Sonnenblumen saufen leider ziemlich was weg. Letztere brauchen dazu alle naslang einen größeren Topf und gehen bei Gewitter in die Knie, wenn sie keiner von der Brüstung wuchtet. Bis vor zwei Jahren hab Sonnenblumen aufgezogen, die aus dem Wintervogelfutter heraus sprossen. Und freute mich schon im Frühjahr auf Grün- und Distelfinken. Sie und die Meisen waren im Herbst sofort zur Stelle, sich die Kerne zu holen.

Trotzdem setzte ich zunehmend auf die robustere Truppe. Als ich für zwei Magazin-Artikel tief in das Thema Wildblumen eingestiegen bin, hat sich mir ein komplett neues Fenster in Sachen Gartengestaltung geöffnet. Es hat mir gezeigt, dass die heimische Flora nicht nur wild und taff ist, sondern auch schön und existenziell für die Artenvielfalt. Seitdem steh ich nicht nur beim Spurenlesen, sondern auch auf dem Balkon voll auf Wildnis.

Richtig los ging es letztes Jahr im März. Nachdem die Artikel zum Thema geschrieben waren, lagen auf meinem Schreibtisch noch Pflanzenlisten, Bücher mit vielen tollen Anregungen und sogar Samentütchen vom Wildpflanzenprojekt „Tausend Gärten, Tausend Arten“ TGTA. Höchste Zeit, aktiv zu werden, und selbst in der Erde zu wühlen!

Fürs Startsubstrat mischte ich torffreie Bio-Erde mit Sand im Verhältnis 1:1, streuselte eine Prise Samen drauf und drückte alles mit einem Stück Holz platt. Nächster Schritt: Warten. Geduld gehört dazu, sagt Ernst Rieger, der Grand Seigneur der Wildblumensaatgutvermehrung (in dessen Firma die Samen für meine Prise gemischt worden waren). Und diesen Merksatz habe ich auch von ihm: „Man muss den Blumen guten Morgen sagen und guten Abend.“

Genau. Mit den Blumen reden, hab ich früher schon im Regenwald gemacht, und jetzt bei den Wilden erst recht: Jeden Morgen geguckt, ob die Keimblätter schon einen Millimeter dicker und größer waren. Weil meine Freunde und Gartenhelfer Familie Eichhörnchen, nicht drin rumbuddeln sollten, deckte ich das Ganze mit Hasendraht ab – und lachte mich scheckig, als eines morgens Mama Eichhörnchen unterm Draht herumruschpelte.

Vor dem Aussäen hatten wir ausgerechnet, wie viele Samen unsere Kästen wohl vertragen würden. Mehr als eine Prise aus dem Päckchen mit 45 Arten war substratmäßig nicht drin. Welche ich da nun zwischen die Finger und in die Erde gekriegt hab??! Keine Ahnung! Ich erkenne zwar das ein oder andere, aber doch nicht jedes Schirmchen, Spindelchen oder Kügelchen. Beim Warten spukten mir neue Pläne durch den Kopf. Anregungen aus dem Interview mit Reinhard Witt, plus der Blumenliste, die Ernst Rieger für Fledermäuse und Nachtfalter ausgegeben hatte. Menno! Wie sie so sind die Süchtigen: Willich! Mussich! Haaben!

Bin im April sogar mit dem Auto zur nächstliegenden Wildstaudengärtnerei gefahren, nach Hattersheim. Es gab aber noch kaum Pflanzen da, ich war zu früh. Also nur Schnittlauch, Glockenblume und Küchenschelle mitgenommen. Immerhin die doppelte Portion (ein Teil für einen Freund). Nachdem das alles so umständlich und unökologisch war, hab ich … respektvoll … bisschen was ausgebuddelt. Bärlauch etwa, der bei uns massenhaft wächst und marktmengenmäßig abgesäbelt wird, Lichtnelke und Nachtkerze.

Lichtnelke war sofort zufrieden, auf Familie Bärlauch bin ich gespannt, Nachtkerze ist leider eingegangen. Aber, wir werden trotzdem welche haben. Denn: Nachkerzensamen waren auch Teil der Prise. Hab erst im Herbst kapiert, dass aus den langsam wachsenden und mir unbekannten Rosetten 2024 Nachtkerzen werden wollen!

In Sachen Schönheit müssen sich die Wilden, aka Frauenspiegel, Felsensteinkraut oder Moschusmalve jedenfalls nicht verstecken. Manchmal entdeckte ich Neues sogar im Dunkeln. Als es brülleheiß war etwa, und Abkühlung nur nachts auf dem Balkon zu finden, sah ich auf einmal: Da blüht ne Bonsai-Lichtnelke! Ganz vorne im Kasten, halb so groß wie meine Hand. Hatte mich schon gewundert über die bauchigen Blütenhüllen, über denen nie eine Blüte zu sehen war. Nachts also gings da ab. Wie der Name sagt: Silene nocturnis!

Gleichzeitig wollte in einem anderen Kasten jemand ganz hoch hinaus. Pfiff auf Substratmenge, Standort und ähnliches Gedöns und schwang sich empor. Wer war sie? Bisschen bocksbartmäßig, stark, aber doch aber fein behaart. Mit Mal trieb sie eine Blütenknospe! Länglich spitz zulaufend. Bocksbart war doch derber, oder? Dann prügelte ein Sturm uns durch. Oh weh! Die gesäten Wilden hingen durcheinander. Sind in meinen Kästen im 5. Stock halt zarter als auf Feld oder Wiese. Also schnell her mit den Ahornwurzelstielen, die ich für solche Fälle aufbewahre, und den verkleideten Bocksbart gestützt. Die Ausgebuddelten und Vorgezogenen dagegen haute so leicht nichts um – die Glockenblumen etwa hielten tapfer gegen, die breitblättrige Lichtnelke auch.

Nach dem Sturm fragte ich die App Flora incognita, nach der Hochstrebenden. Die Antwort kam ohne Zögern: Kornrade, 99 %. Wow. Vorher nie gesehen. Ich vermerkte sie sofort auf meiner mittlerweile auf rund 55 Arten angewachsenen Balkonpflanzenliste. Noch dreimal schlafen, dann blühte sie. Endlich. Endzückend. Als ich sie in Riegers Katalog sah, hatte ich sie noch als langweilig abgetan. Als ihr neuer Fan fand ich schade, dass in meiner Prise Saatgut, nur ein Kornradenkörnchen drin war. Ich lunste zum Balkon von Nachbarin Helene, zwei Stock tiefer, der ich ein TGTA-Tütchen geschenkt hatte. Bei ihr waren zwei Konrädchen aufgegangen. Noch sehr klein. Aber sie hatte auch später gesät – und ihr Substrat eher ackerig gehalten.

Wo ich so rückschaue, fällt mir ein: Am Anfang, beim Einzug vor 34 Jahren, war hier noch kein Grün nirgends. Neubau der gesamte Gebäudekomplex und noch recht unbelebt. Schaute man vom Balkon runter sah man auf spitzige Schösslinge, die mal eine Hecke werden sollten. Kurz: Ein echt urbaner Ausblick. Fledermäuse, Mäuse und Eichhörnchen, Tauben, Gartenbaumläufer, Rotschwänzchen, Taubenschwänzchen, Wespen, Rosenkäfer, Falter, Wanzen, Wildbienen… Kamen alle erst viel später.

Auch die Knotenwespe, die bei uns in den – von fortgeschrittenen Naturgärtnern geschmähten – Geranien ihre Nester anlegt. Letzten Sommer habe ich sie erstmals beobachten können, wie sie Löcher grub und Proviant für ihren Nachwuchs hineinschaffte.

Apropos Beobachtungen: Ein Highlight war die Häutung einer Langfühlerschrecke am Rosmarin. Ein anderes der Anflug der Glockenblumen-Scherenbiene. Nur wegen ihr hatte ich die pfirsichblättrige Glockenblume erstanden. Es war unfassbar: Sie kam sofort angeflogen, als sich die blauen Blüten öffneten. Während deren Blühpause nahm die Spezialistin mit der Moschusmalve vorlieb – ganz nach Lehrbuch. Schließlich ergatterte ich noch eine Flockenblume und stellte sie auf den Tisch, was sofort wieder andere Wildbienen anzog. Damit war unser Lieblingszimmer nun wirklich voll bestückt.

So soll es unbedingt weiter gehen. Deshalb habe ich vor ein paar Wochen im Novemberregen die Ärmel hochgekrempelt, um zu säen und gesammelte Notizen in die Tat umzusetzen. Etwa nach Witts schöner Anregung die Lausitzer Walzenwolfsmilch und das Steinkraut aus Raboldshausen zusammengepflanzt. Danach die auf der Straße gefundenen Riesenpflanzkästen mit meinem Erdmix gefüllt, und den Wilden mehr Substrat unter den Füßen gegönnt.

Außerdem habe ich jede Menge Nichtwilde an andere Pflanzenfreaks verschenkt. Nur jene behalten, die mir ans Herz gewachsen sind, wie die Dreimasterblume (deren Ableger ich vor 40 Jahren im Palmengarten gefunden habe), die Zistrose aus meinem Auszeitgarten in Hohenlohe mitgebracht, oder die exotische Krötenlilie, die ich vor Jahrenden im botanischen Garten kaufte. Und jetzt? Der Bergminze zuzwinkern und: Warten. Guten Morgen und Guten Abend! Bin mega-gespannt auf unsere Wundertüte 2024.

 

Meine Bücherliste für den Wildbalkon:

Reinhard Witt: Das Wildpflanzen-Topfbuch I und II

Ernst Rieger: Die Insektenwiese – so summt und brummt es garantiert!, Topp Verlag, Stuttgart, 3. Auflage 2021

Meine Wildblumen-Samentüte von TGTA für Deutschland West: https://www.tausende-gaerten.de/

Meine Wildstauden: Vom Demeter-Schlockerhof, Hattersheim und der Gärtnerei Klumpen, Frankfurt.

Meine Wildnis-Angebote: Fährten und Zeichen erkunden mit Sylvia

Vortrag beim International Tracking Symposium ITS: 17.-18.2.24

Kurse bei der VHS:
4.-5. Mai 2024 – Fährtenleser:innen sehen mehr! Wildnis im Stadtwald erkunden. Fährtenlesen im Frühjahr I / 11.-12. Mai 2024: Fährtenleser:innen sehen mehr! Auf den Spuren von Fuchs, Wildschwein und Co – Fährtenlesen II
Tracken&Wandern: 16. Juni 2024

 

2 Kommentare

  1. Sehr schöner Bericht und sehr schöne Fotos, spannende Beobachtungen! Und ich freu mich schon darauf, wie es weitergeht auf dem wilden Frankfurter Balkon! Und, danke für die Einblicke in das aufregende Trackerinnen-Leben auf diesem Blog und auch auf anderen Kanälen, über die wir verbunden sind. Mein Blick hat sich durch dich geweitet, eine Bereicherung, und jetzt komme ich draußen noch langsamer vorwärts. Neben Bienchen, Blümchen und Vögelchen suchen wir jetzt auch noch nach Spuren. Mit uns will keiner mehr spazieren gehen :)

    • Danke Katha, und Haha: Kenn ich. Musst halt zwei Spaziergänge machen – einmal mit, einmal einer ohne Tracking, Bienchen und Vögelchen… Aber: die Fenster sind weit auf!

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