Reisen, Tagebuch
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Radreise 2023
#2 Schweden by Bike!

Krasse 24 Jahre ist es her, da standen wir genau hier, Pat drückte auf den zeitverzögerten Auslöser und wir hatten ein Familienselfie: Papa, Sohn und Mama, rechterhand der Ostseestrand und im Hintergrund die Skyline von Travemünde… Hinter uns, oder besser in unseren Wadenmuskeln steckten stolze 630 Ostseeküstenradwegkilometer, vor uns eine Bootsfahrt mit Sonnenfinsternis auf der Trave. Zuhause schrieb ich:

8. Etappe: Richtung Travemünde wechselt die Landschaft. Klippen, kleine Wäldchen wie bei Friedrich (C.D.). Dänische Hotdogs gibt‘s hier keine mehr, aber Pommes und Backfisch. Und Riesenpötte, die vor uns aus dem Wasser ragen wie Titanics. Schwedenfahrer an Bord, die winken und rufen. Ach! Die Menschheit – eine Familie! Wagt man kurz zu glauben und winkt zurück und winkt. Da ziehen sie: die „Nils Holgerson“, die „Nils Dacke“ und die „Peter Pan“ im zwölfstündigen Wechsel. Wir sehen sie morgens in stolzem Weiß, wir sehen sie mittags lau in der Pause, wir sehen sie abends festlich erleuchtet. „Nach Schweden im nächsten Jahr“, winken wir, „Nach Schweden by Bike!“

24 Jahre also hat dieses „im nächsten Jahr“ gedauert, bis wir auf der „Finntrailer“ vorbeizogen an „Peter Pan“ und „Nils Holgersson“ – und sie angrinsten mit unserer lange gehegten Sehnsuchtsfreude. Da hatten wir schon einige Zugstunden intus und die steile Auffahrt aufs Deck 3 im Fahrradkonvoi nach dem letzten LKW… Die ersten Tage schwimmen wir von Punkt zu Punkt im Übergangsmodus. Menschen, Menschen, Menschen. Sie viele wie wir gefühlt sonst das ganze Jahr nicht treffen. Lächelnd, neugierig, abwehrend…  spiegeln wir uns gegenseitig alle möglichen Zustände. Sitzen in einem Boot, nein, in einem verspäteten Zug und hoffen, dass wir pünktlich zur Fähre kommen. Geduld aktivieren. Geduld? Achso:  Lesen oder Rausschauen. Im Gegensatz zu vielen anderen sind wir megaentspannt – klar könnt ihr nachher vor uns raus – wir haben Zeit. Das Ein- und Ausfrickeln der Bikes aus der Fahrradverrichtungsbox des ICE ist bei jeder Radreise die verfrickte Zumutung an sich.


Aber noch sitzen wir, und ich erspähe Bücher: der Franzose vor mir liest Jean Baptiste del Amo: Régne Animal (Tierreich) – Oh lá! Schwere Kost zur kapitalistischen Schweinemast. Könnte ich nicht ertragen. Zur Entspannung liest er dann wohl Fred Vargas neuesten Krimi: Sur la Dalle (Jenseits des Grabs). Hinter meiner beamt sich jemand nach Brüssel. Das vermerke ich, als der Mensch mal zum Klo muss: Die Hauptstadt von Robert Menasse. Danke, Folks. Kannte ich alles nicht, hab ich jetzt auf der Liste.

Später dann stundenlang für die Anmeldung und Auffahrt zur Fähre anstehen. Ulrike aus Köln quatscht munter alle an, ist allein unterwegs und erzählt, sie will – Respekt! – mit dem Rad bis nach Stockholm. Auch sie zum ersten Mal auf Schwedenreise. Noch drei Biker stehen herum, ein älteres Radelteam, aber alle bio. Auf einmal fährt einer weg. Hui! Abwechslung! Sofort denkt man sich Geschichten aus: Was kann er bloß vergessen haben?! Kommste nicht drauf. Auf dem Schiff erzählen seine Kumpel, er habe Herzprobleme gehabt und sei dann doch lieber umgekehrt. Armer Kerl, alles geplant, gepackt, und kurz vor gleich sagt das Herz, Nö. Dann der witzige Spanier. Wienert sein Motorrad, dass es nur so blitzt, und filmt es dann mit dem Handy. 5000 Kilometer von Spanien erzählt er einem Schweden stolz. Der wiederum 500 Kilometer hinter sich hat, aus dem Ruhrpott kommt, wo er jetzt arbeitet – und sich auf sein Sommerhaus freut. Auf der Fähre dann reichlich Truckerfahrer. Männer, die reichlich trinken und Schwedisch sprechen.

Sanft geschaukelt und übernacht sind wir im Neuland. Sogar die Ansage um morgens umgeswitcht. Um sechs Uhr weckt der Captain mit sexy Timbre auf Schwedisch und Englisch – Frühstück? Kaffee? Los Leute, wir sind gleich da. Hej-Hej, jetzt gilts: Schweden by Bike auf dem Südküstenradweg.



Geplant: Malmö anschauen und dort dann auch eine Nacht bleiben, bevor wir richtig auf Tour gehen. Schon zuhause war ich skeptisch. Auf der Fähre dann, nach dem Frühstück war für mich klar: Jetzt nicht noch irgendwas gucken und noch länger irgendwo rumhängen. Es soll jetzt endlich losgehn. Losfahren! Jetzt! Pat war schnell gewonnen, also neuer Plan: Wir zelten auf der Halbinsel Falsterbo. Hätten aber nicht gedacht, dass uns ausgerechnet jetzt dieser blöde Controller-Spruch in die Quere kommt: Je besser die Planung, desto größer der Reinfall… Beim riesigen Falsterbo-Campingplatz hieß es kurz und knapp: „We’re full.“ Hä? „Komm“, zog Pat, „Eh nicht schön hier. Auf zum nächsten Platz.“ Und da: Dasselbe. Ich frage dreimal nach: “No place? One small tent, two persons by bike?!” Sie schüttelt den Kopf. Wir sehen freie Rasenflächen. Natürlich ist da Platz. Geht‘s noch? Nach 85 Kilometern schließlich kommen wir nahe Trelleborg raus, und wieder heißt es: „We’re full.“ Zur Hölle. Das ist jetzt Radurlaub in Schweden?

Nach uns zwei russische Radlerinnen, Mutter und Tochter 50 plus, bekommen dasselbe zu hören. Wir sehen wohl einigermaßen verzweifelt aus, da sagt die Platzfrau: Nun ja, wir haben noch die Shelter. Halboffene Holzhütten beschreibt sie, da könnten wir übernachten: „Ist für 8 Schlafsäcke. Zwei Plätze sind schon belegt.“ Okay. Ich zahle und informiere Pat. Der rollt zwar mit den Augen, aber gut, für eine Nacht… Wir schauen uns den Shelter an. Da liegen schon sechs Schlafsäcke, ein Hund ist auch da. Sardinenschlafplatz. Pat schaut mich an: Ne. Ohne mich! O-kay. Weiter gehts. Wir sortieren uns noch, als ein deutscher Radler vorbeikommt, und einen Tipp hat:  Zeltplatz, Eben reserviert, 16 Kilometer von hier. Gut. Nur schaffe ich es nicht, den Platzmenschen zu erreichen. Dann reicht‘s mir. Schluss jetzt. Schnauze voll. Wir zelten wild! Ich stürme vorweg, hoppel mit dem schwer bepackten Rad über einen Sandwanderpfad. Über Wurzeln und durch Grasbüschel und – da isser: Unser erster Wildzeltplatz. Mit Strandblick. Danke! Am Ende wird es einer der schönsten Plätze ever gewesen sein.


So geht ankommen. Heimat. Draußen ist Heimat. Oder drinnen?! Auf einmal geht’s. Mehr als einmal dachte ich diesen Sommer: Wie wunderbar und freigiebig die Natur, wie schön und bereichernd. Und was geben Menschen zurück? Müll und Respektlosigkeit. Die Suche nach einem Zeltplatz bleibt uns die ganze Tour über erhalten. Aber je früher wir da sind, lernen wir, umso größer die Chance. Damit kann man arbeiten. In Ystad etwa funktioniert das prima. Aber auf dem weit und breit schönsten, weil natur- und küstennahen Zeltplatz haben wir trotzdem keine Chance. Später wird uns ein Wandererheim-Chef bestätigen, wie außerordentlich dieser Sommer ist. So viele Urlauber habe er noch nie erlebt. Und auf einem Platz in Löderup höre ich von Kölnern, und Berlinern, dass sie sich kurzfristig für Schweden entschieden hätten, weil an der Ostsee schon alles voll war. Außerdem ist Ferienzeit. Nie wieder Schweden im Sommer, lasse ich mir von Pat versprechen. Ja? Nie wieder.

Als ich nochmal nachfrage beim naturnahen Platzwart: One tent, two persons by bike?! Sagt er: Hm. Er hätte da noch einen Fußballplatz, den er jetzt vermiete. Gekauft! Ich lasse es mir zweimal erklären und tatsächlich: Da lässt sich gut zelten und leben. Supper! Der Fußballvereinswart erlaubt mir später sogar die Waschmaschine zu nutzen. Und ich kann mich endlich den wichtigen Fragen des Urlaubslebens widmen: Wann schlafen Hornissen? Was für ein Vogel war der tote auf der Vereinsveranda? Wo gibts die leckeren Wonderballs?




So ein Ankerplatz ist genial. Wir erkunden die Gegend. Ales Stenar – ein historischer Steinkreis, Sonnenkalender, wie die Standing Stones in Schottland. Busweise kommen die Besucher. Der ganze Ort lebt davon. Die Reichen (oder die mit Erbglück) ganz nah dran, in den schönen Häuschen mit den schönen Gärtchen. Die anderen in den Mietskasernen dahinter. Und Simrishamn. Hafenstadt – Pats Freude.

Leute mit Eistüten groß wie Türme und bunt wie Kinder. Die Kinder gehen auf Möwen los und entledigen sich ihrer Löffel ins Hafenbecken. Müll im Hafen, in der Ostsee in der Trave. Seid vernetzt, Millionen, die Menschheit eine Familie! Aber auch die sonst eher gelassenen Schweden ärgern sich über Touris. Bei den Carved Stones etwa steht: „Und wenn ihr keinen Respekt zeigt, schütten wir Erde drauf – und niemand wird sie je wiederfinden.“ Hugh.

Anderntags fahren wir zum Nationalpark Stenshuvud. Dort knubbelige Eschen und Birken, die sich auf den vom Meer rundgewaschenen Steinen festkrallen und sehr urig aussehen. Menschen, Menschen, Menschen. Ferien halt. Aber ich freu ich mich doch auch, den andren zuzuschauen. Wie dieser jungen Frau, die mich an mich selbst erinnert vor 40 Jahren oder so: Glitzer up your life. Als Fee auf Stenshuvud, auf deutsch Steinhaupt. Was gibts da noch? Schicker griechisch anmutender Leuchtturm, irre Weitsicht und Ei-der-Enten! Sehe ich da zum ersten Mal. Sehr, sehr cool.




Abends auf dem Fußballplatz ein Neuankömmling. Der schwer ausgerüstete „Outdoor“-Mann kommt auf mich zu, seine surrenden Kühlbox an der Hand. „Are you living in here?“ Fragt er mich? Ich schüttle den Kopf. Wir genießen die Abendsonne auf der Terrasse eines Bauwagens, von dem aus wohl sonst Würstchen und Pommes verkauft werden. Dort gibts Tische und bequeme Stühle. Where electricity? fragt er noch – ich schicke ihn zum Toilettenwagen.

Unsere direkten schwedischen Zeltnachbarn aber sind total nett. Prosit! ruft sie, als ich niesen muss. Prosit? Ich pruste. Heißt „Gesundheit“ auf Schwedisch, erklärt sie. Madeleine. Aus dem Norden kommen die beiden. Es sei da wunderbar! Und ganz anders, als hier an der Küste. Ich lasse mir die Email-Adresse geben für eine E-Postkarte.

Schließlich verlassen wir den Turnverein Baskemölla. Zweitbester Platz. Es war der nördlichste Punkt unserer Reise, ab jetzt gehts durchs Binnenland wieder Richtung Malmö. Adieu Küstenlandschaft, Segelschiffe, Fischereihäfen. Hej-Hej!



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