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Tracking-Literatur #2: Tierspuren Europas

 

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Tschacka! Jetzt gilts, dachte ich im Mai, als Joscha Grolms mir die Bestätigungsmail schickte; „Der Platz geht an Dich!“ Juppie! Gleichzeitig dachte ich aber auch: Oioi, hoffentlich übernimmste dich nicht. Meine erste Fährtenleser-Evaluation, hiermit gebucht. Bisschen Training würde nicht schaden – und das neue Buch auch nicht, aber wann kommts denn endlich?! Vorbestellt seit Februar. Erst dachte ich ja, 70 Euro… Puh. Brauch ich das? Dann versicherte mir eine Freundin, die Fotos beigesteuert, das Buch gegengelesen und somit ordentlich Einblick hatte: „Du wirst es lieben“. Bestellt. Und im Juli endlich hatte ich es dann in der Hand. Oder besser in zwei Händen, über zwei Kilo. Ein Klotz von über 800 Seiten. Kann man da noch von Handbuch reden? Doch. Ja. Und was für eins. Den Verlag hat es wohl verblüfft wie viele Tracker-Nerds es gibt – 600 Vorbestellungen warteten auf Auslieferung. Drei Monate später ist die erste Auflage von 4000 Exemplaren verkauft. Die nächste gedruckt.

Und ich bin in der Lausitz. Der erste Evaluierungstag ist zu Ende. Elf Prüflinge, Evaluierer Joscha sowie Ulrike und Golo, die die Klemmbretter halten, und Antworten entgegennehmen sitzen am Tisch der Pension Zum Hammer. Wie er sich jetzt fühlt? Nach dem Buch? „Befreit“, antwortet der Master-Fährtenleser. Kein Wunder nach acht Jahren Arbeit. Zwei Winter, schreibt er, habe er nur damit verbracht, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Mause-Arten zu untersuchen. 200 Tage allein mit Zeichnen. Dazu sind er und seine Lebenspartnerin Laura Gärtner an verschiedene Orten Europas gereist, um auch Informationen über Tiere wie Wisent, Moschusochse, Ginsterkatze oder Stachelschwein aus erster Hand weitergeben zu können.

Bis Juli waren diese meine Favoriten unter den Fährtenleser-Büchern: Het Prentenboek (René Nauta und Aaldrik Poth) mit alles, vom Säugetier bis zum Tausendfüßler, und ergänzend „The Art of Tracking Animals“ (Wlodomierz Jedrzejeski und Vadim Sorovich) nur über Säugetiere. Niederländisch das erste, englisch das zweite. Auf Deutsch gehört für mich „der Grimmberger“ dazu, „Die Säugetiere Mitteleuropas“. Mit seinen Säugetierportraits, einigen Fußspuren, Maßen von Füßen und Abbildungen von Schädeln war das schon ganz gut, aber nicht vergleichbar mit Het Prentenboek. Der Ulmer Verlag hat das erkannt, und bei Joscha angefragt. So wünscht man sich das als Autor. Ihn im Feld zu erleben – jemanden, der die unscheinbarsten Spuren auftreibt wie die einer jungen Schlingnatter unter einer Brücke – beeindruckend. Dazu die Geschichten, die er erzählt – und von denen ich gern mehr im Buch hätte, aber wie viele Seiten hätten es dann müssen sein?

Den ganzen Tag draußen, und dazu hochkonzentriert – wir elf Prüflinge sind platt. Nach 30 Stationen mit Fragen wie, Was ist das? (Antwort z.B. “Kolkrabenschiss”), Welche Gangart? (“Schrägtrab”), Wer?… Fragt sich die eine, Warum um Himmelswillen, sie nicht Möwe geschrieben, obwohl sie’s gesehen hat. Der andere, Warum zur Hölle er das Hermelin nicht erkannte. Und – Oioioi, was würde morgen alles drankommen? Vogelfußabdrücke? Mausefüße? Noch schnell was nachgucken?!


 

Ich nehme den Wälzer. Im Gegensatz zu meiner Ausgabe öffnet sich das Buch geschmeidig, meine wurde ja auch noch nicht so oft benutzt. Xmal meinte Joscha bei relativ einfachen Aufgaben, „So viel Zeit haben wir jetzt nicht: Könnt ihr nachgucken, steht alles im Buch.“ So macht mans zum Nachschlagewerk. Es sind aber auch unglaublich viele Details zu sehen und nachzulesen. Zurück zur Arbeit: Wie war das mit den Mäusen? Auf die hatte ich mich als allererstes gestürzt, als das Buch kam. Wollte bei meinen Spurenfunden Wühl- und Waldmaus unterscheiden, aber wie? Fußabdrücke, kleiner als mein kleiner Fingernagel. Schwierig genug, ihre Abdrücke zu finden, und dann (für eine Spurendokumentation) genau zu erkennen und zu messen. Klein. Sehr klein. Aber auseinanderhalten? Andere Fährtenleserbücher zeigen oft Abdrücke, die mit Füßen toter Tiere gemacht wurden, Joscha nutzt wie sein Vorbild Mark Elbroch, Fährtenleser-Crack aus den USA, Tusche-Punkt-Zeichnungen und die entweder lebensgroß oder 50 % verkleinert. Dazu Fotos von Füßen (beim Schalenwild leider ohne Afterklauen, warum denn das?), Trittspuren auf unterschiedlichen Böden und Tintenabdrücke. Ich begann nach diesen Vorlagen die Mauseabdrücke selbst zu zeichnen, um mich einzufühlen. Und bestimmte daraufhin zwei Mausefährten aus meinem Archiv. Ha: Eine Wald- und eine Rötelmaus. Aber wie war das noch? Würde ich das morgen noch wissen? Auf keinen Fall jetzt noch vertiefen. Ich bin weit weg von aufnahmefähig. Mein Schlafsack wartet, und noch weiß ich nicht, dass ich bei Minus vier Grad im Naturcamp keine kuschelige Nacht verbringen werde.

Neuer Tag, neues Trackingglück. Traumhaftes Herbstlicht und alle sind aus dem Häuschen: Seeadler voraus! Dann die ersten Stationen – so werden die nummerierten Stellen mit Tierspuren genannt, die es für uns Prüflinge zu identifizieren gilt. Am Ende werden es 60 Fragen gewesen sein, von leicht über mittel bis schwer. Die erste gleich versemmelt: Ein Rothirsch, Mensch! Kein Wildschwein ist am Rand des Ufers durch die Matsche galoppiert. Hätte ich erkennen können. Müssen. Sicher ne Level-I-Frage. Mist. Je leichter die Frage, desto größer der Punktabzug. Auch, wenn das nicht der Hauptgrund war, ohne Zertifikat wollte ich nun auch nicht nach Hause – und es gab schließlich wirklich schwere Fragen. Sachen die ich im Leben noch nicht gesehen hatte. Den Fußabdruck eines Kiebitzes etwa, der einzige Regenpfeifer mit Hallux, wie wir bei der Auflösung erfahren.

Und schon die nächste Frage-Runde am Seeufer gegenüber. Klemmbretthalter Golo erklärt, worum es geht und wünscht „Viel Spaß!“ Na, endlich was Einfaches. Diese Fährte im Schlamm war leicht: Ein Waschbar. Gangart? Schritt, extrem übereilt – Check. Auch die nächste Frage flutscht: Welcher Fuß? Waschbär, hinten rechts. Check. Und dann ne Minifährte: Wer wars? Klein, sehr klein. Maus. Wie war das noch? Hätte ich das mal auswendig gelernt. Mir fiel ein, dass im Buch stand, dass für eine Art Maus typisch ist, dass sie nicht springt, sondern meist Schritt läuft so wie die hier. Aber welche? Ich sah die Zehen ein V bilden – V for Vole. Gut: Wühlmaus. Aber welche? Puh. Ich tippte auf Rötelmaus. Tscha. Knapp daneben ist auch vorbei.

Dann die Auflösung, das Salz der Evaluation, und Joscha hält uns einen kleinen Vortrag über die Evolution der Mäuse. „Ik ben om“, würde der Holländer sagen, Haut mich um. Mit Hilfe von laminierten Zeichnungen, die auch im Buch als Gegenüberstellung zu finden sind, erläutert Joscha, wie sich die Feldmäuse und ihre Füße vom Leben in Erdgängen zum Waldmaus-Leben als Springer und Kletterer über der Erde entwickelt haben. Sozusagen vom Tunnel ins Licht. Und natürlich sind diejenigen, die heute noch in Erdtunnelgängen rumlaufen auch die, die nicht springen. Dazu Joscha, „da stößt man sich ja sonst dauernd den Kopf.“ Evolutionäres Zwischenglied zwischen beiden sei die Rötelmaus, die zwar auch Schritt läuft, aber eben auch springt. Sie wars also nicht, sondern schlanke Feldmausfüße. Lection possible.

 

Solche Gegenüberstellungen sind ein sehr gelungener Teil des Buchs. Verglichen werden leicht verwechselbare Spuren wie eben die der Mäuse oder von Rothirsch und Wildschwein (ja, ja). Superpraxisnah daran, wie die besonderen Kennzeichen herausgearbeitet werden, an denen man die Unterschiede erkennen kann. Kleiner Kritikpunkt: Der Hinweiskasten auf diese Gegenüberstellungen wäre vorne beim Index besser zu finden und aufgehoben, als so versteckt hinten bei den Stichwörtern.

Wann oder warum auch immer ich das Buch aufschlage, bleibe ich hängen. Als Fährtenleserin interessiert mich ja jedes Zeichen, ob von Seeadler, Hermelin oder Regenwurm. Super ist, dass man für alle Säugetiere die Schrittlängen findet, sowie die Gangarten, in denen sie oder Vögel sich am liebsten fortbewegen. Gab es vorher so nicht. Mein persönlicher Kritikpunkt gilt der Bildsprache. Die über 1000 Farbfotos geben sehr viel an Info und Vorstellungsmöglichkeiten, sind aber anders als bei René Nauta nicht aus einem Guss und oftmals viel zu flau abgedruckt. Hier wäre eine durchgängige Bearbeitung wünschenswert, denn ein Buch lebt nicht zuletzt von der Wertigkeit des Visuellen. Das Titelbild soll sicher verkaufsfördernd sein und verkauft sich hoffentlich gut. Doch für mich entspricht es nicht Joschas Spirit oder dem des Buchs. Ansichtssache. Diskussionen um das beste Titelbild gibts immer. Inhaltlich habe ich keine Kritik, sondern bin dankbar für all das geteilte Wissen, das wiederum von so vielen anderen mit Joscha geteilt wurde. Eine Kulturspur mitten durch die Menschheitsgeschichte. Sie zu nutzen öffnet Blickwinkel, ermöglicht Einsichten. Bin gespannt auf Joschas nächstes Projekt. Wenn Bücher wie Babys kommen und gehen. Kanns acht Jahre dauern. Achso, Zertifikat? Jep: Level II. War nicht das letzte Mal dabei. Wir sehn uns, Leute. Wir sehn uns, Joscha. Ho.

 


Joscha Grolms: Tierspuren Europas
Spuren und Zeichen bestimmen und interpretieren.
 

Mit Spuren und Zeichen von Säugetieren, Vögeln, Reptilien, Amphibien und Wirbellosen.
815 Seiten, 69,95 Euro

 

Eugen Ulmer Verlag, Stuttgart
 

PS Keine Werbung, alles selber bezahlt.

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