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3 Bücher: Kindheit ist… nicht Krankheit!

31198-7_Die-Kinderkrankmacher_U1_print.inddZu dick, zu dünn? Zu klein, hektisch, ungeschickt? Sobald Eltern das Gefühl haben, ihr Kind entwickle sich nicht wie andere, rumort in ihnen die Fage: Ist das normal? So weit so klar – das gehört zum Elternsein. Wenn aus diesen Überlegungen jedoch Angst wird und daraus Etiketten wie „gestört“ oder „hyperaktiv“, ist definitiv Schluss mit normal. Drei Bücher hab ich dazu für Psychologie Heute (August 2015) gelesen, darin ziehen zwei Kinderärzte und drei Journalistinnen eine Bilanz ihrer Arbeit. Fazit: Wenn es ein Problem, gibt, dann ist es der Optimierungs- und Normierungswahn!

Aber eins nach dem andren: In „Die Kinderkrankmacher“ haben die ZDF-Journalistinnen Beate Frenkel und Astrid Randerath umfangreiches, zum Teil investigatives Recherche-Material in Sachen Pharma-Seilschaften zusammengestellt, das sie für diverse Frontal21-Sendungen gesammelt haben. Es geht ums Geschäft. Genauer um das systematische Geschäft mit dem Gesamtmarkt Kind. Dazu zählen Antibabypillen, die Teenagern als probates Mittel gegen Akne verkauft werden, Brustvergrößerungen für 18-Jährige oder Tabletten gegen ADHS. Die Autorinnen zitieren etwa die Studie einer Krankenkasse, in der auffiel, dass im Raum Würzburg doppelt so viele Jungen und Mädchen an ADHS leiden, wie in anderen Teilen Deutschlands. Warum? An der Uni Würzburg befasst sich ein Lehrstuhlinhaber mit den Erfolgen der Medikation bei ADHS. Offenbar hat er einen closed shop eröffnet: Lässt sich vom Hersteller sponsern, hat Absolventen, die in der Umgebung ihre Praxen eröffnen und wiederum von den ansässigen Schulen als Referenten zum Thema ADHS für Elternabende eingeladen werden. So lohnt sich lehren.

Außerdem kommen im Buch verschiedene Experten selbst zu Wort, darunter Schulpsychologin Rosemarie Straub. Zur ADHS-Medikation sagt sie: Die Gabe von „Ritalin ist eine Menschenrechtsverletzung“. Denn: Wie sollen Kinder lernen selbstverantwortlich zu handeln, wenn sie ständig gedopt werden? Das Kinderrecht auf Selbstbestimmung ist übrigens gemeint. Wenn man weiß, dass das Gros der Erwachsenen keinen blassen Dunst von den Kinderrechten hat (Details siehe hier beim Deutschen Kinderhilfswerk), ist das ein doppelt wichtiger Hinweis.

Hauch-Fischer-coverDas Buch „Kindheit ist keine Krankheit“ hat der Kinderarzt Michael Hauch zusammen mit seiner Frau, der Journalistin, Regine Hauch geschrieben. Auch hier ist ADHS ein wichitger Themenpunkt. Sie weisen darauf hin, dass heute jeder vierte Junge mindestens einmal in seinem Leben die Diagnose „Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung“ erhält – und dass es vor allem die Jüngsten eines Jahrgangs trifft. Auch wenn der Untertitel Empörung verspricht, ist der Ton des Buchs sachlich und informativ. Die Leitfrage lautet: „Wie kann es gelingen, die Probleme der Kinder aus der Medizin zurück in die Familien und die Pädagogik zu bekommen?“ Beiden Bereichen attestiert das Buch die fast totale alltagspraktische Überforderung. Das Ergebnis? Kinder, die ihrerseits vollkommen überfordert sind.

Das Autorenpaar bezieht sehr klar Position gegen vermeintliche Störungen und vorschnelle Medikation oder Therapierung von Kindern. Dafür schlüpfen sie in die Rolle der Aufklärer. Benennen Mängel von Entwicklungstests, die in Kitas Einzug gehalten haben, beschreiben den stressigen Alltag von Eltern und Pädagogen und wie sich beide auch noch gegenseitig Druck machen. Da Michael Hauch Kollegen kennt, die ruckzuck Pillen verschreiben, statt nach Ursachen für Symptome zu suchen und zusammen mit Eltern gute Wege zu finden, plädiert für eine bessere Ausbildung von Kinderärzten. Dazu warnt er vor den Nebenwirkungen von Diagnosen: „Man soll Kinder nicht in ihre Bestandteile zerlegen“ und bei etwaigen Defiziten „zu reparieren versuchen.“ Nicht zuletzt verweist auf die Gefahr von Stigmatisierung: Einmal ADHS, immer ADHS.

1359_01_SU_Saul.inddAuch „Die ADHS-Lüge“ ist ein plakativer Titel. Und auch hier stellt ein Kinderarzt sein Praxiswissen zur Verfügung. Wie das Ehepaar Hauch hält Richard Saul ADHS für ein Konstrukt. Ein Etikett, das als Entschuldigung dient, wenn etwas nicht klappt. Wie leicht ein Kind Gefahr läuft, eine solche Diagnose durch einen unerfahrenen oder überforderten Arzt zu erhalten, wird deutlich, wenn man sich die von ihm gleich zu Beginn aufgelisteten 18 Symptome durchliest. Fünf davon müssen nach dem umstrittenen Diagnostischen Manual „DSM V“ zutreffen, um ADHS zu diagnostizieren. So könnte man etwa ein Kind haben, dass sich weigert Aufgaben zu erledigen, „die kontinuierliche geistige Anstrengung erfordern (zum Beispiel Hausaufgaben)“, nicht auf Details achtet „(macht beispielsweise Flüchtigkeitsfehler bei Schularbeiten)“, „sich leicht durch äußere Reize ablenken“ lässt sowie herumrennt oder klettert, wenn dies „nicht als angemessen erachtet wird“ oder ein Kind, das nicht abwarten kann, „bis es an der Reihe ist“. Dann kann der Arzt das Ganze noch drei Kategorien zuordnen: „vorwiegend unaufmerksamer“, „vorwiegend hyperaktiv-impulsiver“ oder den „Misch-Typus“. Er kenne Kollegen, die stolz von ihrer praktischen Zwei-Minuten-Checkliste erzählen, bemerkt der Autor.

Richard Saul ist ebenfalls ein erfahrenr Arzt. 1983 hat er in Chicago eine Praxis eröffnet, an die nur ADHS-Fälle überwiesen werden, mit denen andere nicht mehr zurechtkamen. Sein Fazit als Merksatz: „Behandlung verzögert – Behandlung verwehrt!“ Und darunter läuft für ihn jede Diagnose, die anstatt Ursachen zu suchen, Symptome unter dem Etikett ADHS verbirgt. Er berichtet ausführlich über 16 Fehldiagnose-Möglichkeiten, und zeigt anhand von Fallbeispielen, wie sie die Kindern das Leben schwer gemacht haben. Einer der häufigsten Gründe für ADHS-Symptome sei Kurzsichtigkeit – die Kinder können nicht sehen, was an der Tafel steht. Sie fangen an herumzuhibbeln und zu stören. Weitere mögliche Gründe sind etwa Hörprobleme, Lernstörungen, Tourette-, Asperger-Syndrom oder Hochbegabung.

Alle drei Bücher sollen die Gesellschaft mit der unbequemen Tatsache konfrontieren, dass sie selbst die Konsequenzen (er)tragen muss, wenn sie ihren Kindern die Möglichkeit nimmt, sich in der in ihnen angelegten Weise zu entfalten. Und alle drei tun dies auf je eigene engagierte Weise. Wer sich in das Problem ADHS und kindliche Entwicklung vertiefen will, sollte Saul und die Hauchs lesen, (nur die Hauchs allerdings nennen deutsche Statistiken). Wer einen nachdenklichen Blick hinter die Kulissen unserer Gesellschaft werfen will, ist bei Frenkel und Randerath richtig. Am Ende erinnern übrigens alle Autoren daran, wie wichtig verlässliche und selbstbewusste Erwachsene für Kinder sind. Nicht neu, aber man kann es nicht oft genug wiederholen: Jede gute Beziehung zählt.

Beate Frenkel, Astrid Randerath: Die Kinderkrankmacher. Zwischen Leistungsdruck und Perfektion – Das Geschäft mit unseren Kindern.
Herder Verlag 2015, Freiburg, 256 Seiten, 19,99 Euro

Dr. Michael Hauch/mit Regine Hauch: Kindheit ist keine Krankheit. Warum wir unsere Kinder nicht mit Tests und Therapien zu Patienten machen dürfen.
S. Fischer Verlag Frankfurt 2015, 318 Seiten, 14,99 Euro

Richard Saul: Die ADHS-Lüge. Eine Fehldiagnose und ihre Folgen. Wie wir den Betroffenen helfen.
Klett-Cotta, Stuttgart 2015 (2. Auflage), 318 S., 19,95 Euro

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