Darf ich mal? Ich nehme eine von den Clownsnasen aus Gisela Matthiaes Requisitenkiste – und habe gleich das erste Aha-Erlebnis: so viele unterschiedliche Nasen?! Lang gezogene, kurze, runde, weniger runde… Dann die zweite verblüffende Erkenntnis, alle haben vorne unten zwei kleine Löcher. „Na klar!“, die schlanke Frau im Ringelpulli lacht, „sonst kriegt man ja keine Luft“. Ja, aber drittens stinkt diese Berufsuniform gehörig nach Gummi. Bah! Sie zuckt nur kurz mit den Augenbrauen. Clowninnenalltag, soll das wohl heißen..
Als wir sie für ein Porträt in Gelnhausen besuchen, ist das unsere erste Begegnung mit einer echten Clownin. Einer nachdenklichen dazu, die gerade noch die Erkenntnisse des letzten Wochenendes verarbeitet. Was sie so umgehauen hat? Sie atmet sich größer, schlüpft unmerklich in ihr Alter-Ego und legt los: „Oh! You look too intelectual! Could you please be a bit more of an idiot?“ Mit blitzenden Augen imitiert Gisela Matthiae den 70-jährigen Meisterclown Philippe Gaulier, an einem seiner Workshops hatte sie in Berlin teilgenommen. „Ich bin aber eine Intellektuelle!“ hätte sie am liebsten zurückgegeben. Doch schließlich war sie zum Lernen dort.
Der authentische Ausdruck von Gefühlen, den sie dort spürte und den wiederzugeben der Meister seine Schüler drängte, das imponiert ihr – seine Schulungsmethode dagegen weniger. Sie setzt die clownsnasenrote Tasse ab und schlüpft wieder in die Rolle des Lehrers. Die Hände in den Seiten schnauzt sie mit französischem Akzent: „You are so bad! That is Zero – non: Double Zero!“ Sie grinst abmildernd. „Natürlich haben wir alle gelacht. Er wollte uns auch ja auch zum Spiel verleiten über diese absurde, vernichtende Kritik.“ Aber gerade diese Kritik nagt offenbar doch. Die Eindrücke des Workshops sind noch frisch. Außer ihr waren Berliner Schauspieler und eine Londoner Regisseurin dabei – und sogar diese Bühnenprofis habe er „zum Nullpunkt“, an ihre Grenzen und zu extremen Emotionen geführt. Was davon wird die Theologin, die selbst Clownerie unterrichtet, persönlich weiterbringen? Und was wiederum die Pfarrerinnen, Altenpfleger oder Kirchenvorständler, die ihre Kurse belegen?
Den hohen, getöpferten Becher vor sich schaut die 53-Jährige nachdenklich aus der Balkontür. Dabei treffen die Berliner Eindrücke auf den Anblick verwinkelter Gassen – ein Hauch hessischer Toskana im ziegelroten Herzen der Gelnhäuser Altstadt – und verlieren sich in einer sanften Hügelkette am Horizont. Die Büchermeter in ihrem Rücken künden von der Lust an Kopfarbeit – und sind bunt sortiert. Goethe plaudert hier mit Shaw und Buber, während sich einige Reihen weiter Rinser, Walser und Heißenbüttel aneinander reiben. Sie spiegeln eine herzoffene, suchende Intellektuelle. Eine spielerische auch, die ihre Fäden an überraschenden Stellen zusammenknüpft. So wie in ihrer Doktorarbeit, wo feministische Theologie und Humor zur Clownin Gott zusammenfinden.
Nach ihrem Beruf gefragt, antwortet sie: „Theologin und Clownin.“ Die Theologin zuerst? „Ja, die Clownin kam erst später von der Seite dazu…“ Genauer gesagt, traf sie sie in den USA, wo Gisela Matthiae feministische Theologie studierte, weil sie als Pfarrerin immer wieder schmerzhaft den Clash der Genderkulturen verspürte. In Berkeley entdeckte sie dann Clowning Ministry. Das Clown-sein in Kirchenzusammenhängen war ein eigenes Fach, das fürs Studium ebenso viel zählte wie irgendein anderes. Sie war auf der Stelle fasziniert. Jahre später nahm sie in Deutschland die Spur wieder auf und merkte, wie die Clownerie sie beflügelte. Drei Frauenfiguren hat sie entwickelt, über die sie sich bei Bedarf ganz unterschiedlich austoben kann: Adele Seibold – unerschrockene Schwäbin, die sich schonmal mitten in einer heiklen Fusionsphase zweier Kircheneinrichtungen mit der Frage auseinandersetzt, was dieser Akt alles bedeuten kann – und so beiden Seiten ein Nachdenken ermöglicht. Dann gibt es die korrekte Hamburgerin Frau Kiebig-Stelz und die zwanghafte Frau Hager. Am häufigsten spielt sie „meine Adele“, doch alle drei sind ihr Mittelsfrauen für die umfassende Befreiung. Denn sie befreien sie selbst und ihr Publikum von inhaltsleeren Ritualen und erstarrten Gottesbildern: „Mir liegt viel an religiöser Mündigkeit.“
Die Clownerie befreit auch von festgelegten Identitäten. „Weil man dann ausprobiert: wie bin ich noch? Was geht noch? Es geht darum, die eigene Fülle an Ausdrucksmöglichkeiten zu entdecken.“ Das helfe auch, von fixierten Bildern und Gottesvorstellungen wegzukommen. „Denn das liegt ja dem Bilderverbot eigentlich zugrunde: Man soll sich nicht fixe Bilder machen, die Vorrang haben vor anderen. Es gibt eine große Bildervielfalt, vor allem im alten Testament.“ Sie wünscht sich, dass man sich traut, diese als kraftvolle Ressource zu nutzen. Die Entdeckung jener „inneren Freiheit“ hat ihren persönlichen Humoransatz geprägt. Pfarrerkabaretts gibt es ja viele, doch Gisela Matthiae ist die einzige, die mit clowneskem Kabarett auftritt und zugleich Kirchenclownerie unterrichtet.
Zu ihr in die Workshops kommen keine Schauspielschüler. Zu ihr kommen Menschen, die in einer bestimmten Rolle immer ansprechbar sein müssen: Pfarrerinnen, Altenpfleger oder Ehrenamtliche aus unterschiedlichen Berufen. Auf den Informations-Flyern steht in rot: „Keine Angst, Sie brauchen gerade mal keine gute Figur machen.“ Genau das suchen sie. Mal nicht perfekt sein, mal loslassen können – und sich dabei auf humorvolle Art mit ernsten Inhalten auseinandersetzen.
Als Erstes muss Matthiae ihnen meist den Klischeezahn ziehen, denn: „Ein bisschen Hohoho-Gelache und Blödsinn sind noch lange nicht clownesk.“ Da ist sie ganz einig mit dem strengen Lehrmeister: Clownerie darf vieles, nur eines nicht: nett und niedlich sein. Sprüche wie „Lach einfach drüber“ oder „Take ist easy“ sind ihr suspekt. Damit komme man nicht zum Humor, sagt sie, „nur zur Verdrängung“.
Echten Humor brauche man eigentlich nur in schwierigen Situationen. Deswegen unterrichtet sie auch an Pflegeschulen. Altenpflege und Spaß? Ein Begriffspaar, das unvereinbar scheint. Und doch gelingt es oftmals erst über den Humor als Grundhaltung, Patienten wieder ein Lächeln zu entlocken. Ihren Pflegeklassen kann sie etliche Beispiele aus der Praxis erzählen. Etwa das vom ehemaligen Offizier, der die gesamte Station im Befehlston herumkommandiert. Beim Versuch ihm Blut abzunehmen scheitern die Schwestern, was tun? „Dann traut sich noch ein Pfleger aber der Exsoldat böllert gleich los: ‚Mit mir wird Ihnen das Lachen schon noch vergehen.’“ Ihre Schülerinnen fragt sie an dieser Stelle, wie sie reagieren würden. „Mit mir auch!“ komme dann oft. Das jedoch sei der Fehler. „Die Kunst ist ja, diesen Kreislauf aufzubrechen. Der Pfleger im Beispiel antwortet im selben Tonfall: ‚Mir vergeht das Lachen nie!’ Was den Offizier total verblüfft und zum Schmunzeln bringt. Es war ein Wagnis, diesen Befehlston anzuschneiden. Das hätte durchaus schief gehen können. Humor ist immer auch riskant. Aber ohne dieses Risiko gibt es keine Veränderung.“
Wird man als Clown geboren? Neein! Stößt sie prustend aus – und doch. Plötzlich fällt ihr ein, dass sie sich schon als Kind auf ihren Humorsinn verlassen konnte. Wenn die Familie mal wieder mit einem schwierigen Problem zu kämpfen hatte, war sie es, die jüngste, die alle aufheiterte. Seit kurzem sitzt die Kindheit bei ihr zuhaus vorm Bücherregal: ein Teddybär. Die Zunge von den Flickfäden der Mutter noch so rot wie die Gumminase der Besitzerin. Ein braver alter Geselle, der vieles sein mag, nur nicht niedlich.
Ihr Motto: „Man muss die Dinge und sich selbst ernst, aber nicht zu ernst nehmen.“ Ein Gedanke, der nicht so recht zu unserer von Dienstleistung, Perfektionierung und Wettbewerb geprägten Gesellschaft passt – aber auch Christen schwer zugänglich ist. Für sie schreibt sie gerade an den letzten Sätzen ihres neuen Buchs Mit Clownerie zur Glaubensfreude. Durch Gisela Matthiaes Brille ist das Kirchenleben voller komischer Helden und Anekdoten. Jona zum Beispiel. Keiner der Propheten habe sich ja um seine Aufgabe sonderlich gerissen, er aber doch den Vogel abgeschossen. Ein Loser, der dennoch den durchschlagendsten Erfolg vorweisen kann. Sie mimt ihren Lieblingshelden gern als Berliner Göre: „Imma diese jöttlichen Uffträje! Ick nach Ninive? Ja bin ick denn bescheuert? Da fliegen einem doch die Kugeln von allen Seiten der Achse det Bösen um die Ohren.“
Behutsamer vielleicht als ihr französischer Lehrmeister, aber es scheint durch: auch die schwäbische Clownin führt ihre Schüler an Grenzen. Jeden und jede zum eigenen Sperrgebiet. Die rote Linie ihrer Arbeit heißt Empathie. Einfühlsam erkundet sie die menschliche Verletzlichkeit biblischer wie alltäglicher Figuren. Sie will das Gefühl innerer Freiheit weiter geben, und vor allem den Mut, dazu zu stehen. Das ist ihre Kunst.
Danke für das schöne Portrait,