Jahr: 2012

Tödliche Störungen

  Sich einlassen. Leben. Nicht neben-, sondern mit-einander. (Dass das die Atmosphäre entscheidend positiv verändern und prägen würde, darin hab ich ja schon hier dem Autor Jesper Juul recht gegeben). Warum tun sich die Leute so schwer damit? Wer drauf achtet, wird staunen (auch beim eigenen Dampfablasssen). Verrückt, wie unterirdisch primitiv Menschen sich im Alltag benehmen, sofern sie sich nur sicher und distanziert genug glauben. Nach dem Motto “Mir doch egal!” Soll mir bloß nicht quer kommen, der Fuzzi, Dummlack, die Tusse. Mir reicht’s ja so schon. Zuhören, wenn andere reden? Mir scheint, viel zu viele sind so bedürftig nach Aufmerksamkeit, dass sie nur darauf aus sind, selbst zu Wort, zu ihrem Recht, in den Mittelpunkt zu kommen – anstatt zu sich selbst. Kurz: Ich zuerst. Wird man erwischt, redet man sich gern raus: Ich wars nicht. Oder: Nicht so gemeint (die schlimmste Ausrede von allen). Kleiner Ausrutscher, Sorry, Ging mir grad nicht so gut – und so fort. Leute, die regelmäßig mit vielen Menschen zu tun haben – Sachbearbeiterinnen, Verkäufer, Tierarztassistentinnen, Schaffner – registrieren …

Jetzt oder nie: mehr Empathie!

Rezension: “Miteinander. Wie Empathie Kinder stark macht.” Dieses Buch ist eine Art Plädoyer für mehr Herzenswärme, ein Empathie-Kompass vielleicht. Beides grundlegend für eine gute Erziehung und beides Dinge, an denen es fehlt. Da sind sich viele Menschen einig, die mit Kindern zu tun haben – forschende Psychoanalytiker aus dem Frankfurter Sigmund-Freud-Institut, Neurologen wie Gerald Hüther oder eben Jesper Juul. Wenn es Auffälligkeiten gibt, so lässt sich aus deren Erkenntnissen lernen: gestört sind nicht die Kinder, gestört und gespannt sind meist die Beziehungen. Das Buch umfasst Übungen zur Entspannung, auch mit Kindern. Und kleine lebenskluge Abschnitte, die Mut machen sollen, sich öfter mal in andere reinzufühlen. Bauch- und Herzensgefühle also da walten zu lassen, wo es Sinn macht – und: all das mal einfach auszuprobieren. Es dürfte Leute abschrecken, die es nicht so haben mit fernöstlichen Versenkungsübungen. Bewusst werden die Religionen herausgehalten, was das Ganze aber wie einen Mischmasch aus Yoga, Taoismus und Reformpädagogik wirken lässt. Und, nach all den bereits vorhandenen Büchern von Juul wie einen Kessel Jesper-Juul-Buntes. Ich schätze an an ihm, dass er …

ORANGE! Fahrrad-Corso gegen Fluglärm

  37 Grad zeigt die Temperaturanzeige meines Tachos und die Badeseen, die wir passieren, sind rappelvoll. Nur wir (Dumme oder Helden?) lassen Walldorfer Badesee, Schnepfensee, Bornbruchsee links liegen, denn unser Ziel ist heißer: Fahrrad-Corso rund um den Flughafen Egelsbach. Die passenden Strick-Graffitis in der linken Fahrradtasche, den Proviant in der rechten, haben wir schon einige Kilometer hinter uns, als wir den Treffpunkt unter den Pappeln erreichen. Immer mehr Menschen aus Egelsbach, Erzhausen, Langen, Rödermark und auch zwei, drei aus Frankfurt treffen ein. Bis schließlich rund 150 Pedaleure startklar sind. Leider zieht es nicht mehr Leute von weiter weg an – keine Offenbacher, Mörfelder, Hofheimer… Die BIs sind zwar kreativer als die Flughafenbetreiber – aber die wiederum sind um Längen besser vernetzt. „Zieht möglichst was Orangenes an“, schrieb im Vorfeld der veranstaltende Verein Flug-Lärm-Abwehr-Gemeinschaft-Egelsbach „flag-e“ – und die meisten haben sich dran gehalten. Warum auch nicht, es ist schließlich die Farbe der Lebenslust. Das verschossene T-Shirt vom vorletzten Indian Summer ist daher ebenso vertreten wie die nagelneuen FLAG-E-Hemden oder ein leuchtend oranges Radlertrikot. Manchem ist das …

Das Gedicht: Nur Sein

Wenn der nächste Eissturm kommt, weil die alaskanischen Dämme schmelzen… Wenn der nächste Blutsturm kommt, weil die Angst vor dem Nächsten immer größer wird… Wenn der nächste Hirnsturm braust durch dein Gesicht, bis du im Spiegel dich nicht mehr kennst… sich das Spielfeld krümmt am Ende der Berechenbarkeit – dann bleibt: nur Sein.

Die Bestatterinnen: Sabine Kistner und Nikolette Scheidler

“Wir sehen Menschen, wo andere Leichen sehen”   Als mein Vater vor sechs Jahren starb, hatten wir schon viele Male bei Schnee oder im Regen an Gräbern gestanden. Mit unseren Eltern, Cousins, Tanten, Onkeln und auch mit Freunden und immer neu gelernt, was Rilke längst aufgeschrieben hat – dass jeder seinen eigenen Tod stirbt. Mancher wild und durch eigenen Willen durch Messer oder Eiseskälte, einsam im Heim, oder als Drogenabhängiger, urplötzlich, schwer krank. Jede, jeder ging auf ganz eigene Weise – jedes Mal furchtbar. Bei meinem Vater war ich zum ersten Mal ganz nach dran. Sein Todestag und auch die Tage danach waren von unglaublicher Intensität. Ich erinnere unseren Besuch beim Bestatter wie durch einen Vorhang. Sehe kalkweiße Wände, einen Plastikhefter mit Klarsichtfolienseiten. Darin Anzeigenbeispiele und Bilder und Preise von Särgen. Gegenüber ein Mann im schwarzen Anzug, der uns mit schwerer Miene Vorschläge macht, Särge zeigt und Urnen, und dem meine Mutter in einer Tasche die Kleidung übergibt, die mein Vater im Sarg anhaben sollte. Ganz anders mein Eindruck bei den Bestatterinnen Sabine Kistner und …

Endspurt: Lebensräume – Flugrouten

  Noch einen Monat läuft unsere Ausstellung in Offenbach. Ein paar Bilder und Texte daraus haben wir schon vorgestellt unter Entrée… – hier die Fortsetzung zum Reinschnuppern: Waldsee Nimm die Birkenroute, lies ruhig ihre Schriftrollen, summ das codierte Lied der zarten Betula. Folge dem Uferweg. Hände und Füße im Waldfell Kopf in den Wolken. Tag um Tag. Mit Mal wirst du die Glasschnüre sehn im Frühlicht des Jahrs, drin Hunderte schwarzer Samtperlen, unterm Bernsteinblick der Eltern eingewirkt. Eine jede ein pulsendes Wunder. Ein Leben. Es ist nicht mehr da, das unschuldige Aufwachsen in grünen Kinderzimmern. Und auch die Kinder nicht. Aber dies Sehnen, Verlangen nach flirrendem Blattgold, das Ruhe ins Aug fächelt. Dem Lichterspiel winzigster Zellen, dem Rauschen – Wasser und Photonenströme, dem Gurren der Frösche tief und nicht von dieser Welt. Finde die Feder.   Stehn bleiben Warten. Welche Farbe hat die Zeit? Loslassen. Denn: „es kommt natürlich vor, dass man wirklich sprachlos ist.“ Pina. Sie kämpfte, dass ein Ahnen beginne ein Tanzen im Kopf. Half den Nadelkissen im Hirn zu singen, den Füßen …

doc 13: Zeit, die es braucht

Vier Menschen, 13×13 Kunstwerke (und noch ein paar mehr)… Es duftet nach Lindenblüten, als wir frühmorgens in den Zug nach Kassel steigen. Unser Ziel- und Startpunkt dort: Kulturbahnhof. Charmant niedergerockt. Unübersichtliches, dabei doch klar gegliedertes Gelände, dessen ungeschönte Präsenz uns bereits kunstsinnlich macht. Einen Tag lang stürzten wir uns in den „Tanz“ der documenta 13. So nämlich fasst die Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev (CCB) die Kunstschau unschlagbar in diesem Satz: „Der Tanz war sehr frenetisch, lebendig, rasselnd, scheppernd, walzend, gewunden in Schlangenlinien und dauerte eine lange Zeit.“ Natürlich auf Englisch. So wie hier fast alle Bildinfos, Videos und Filme, was ziemlich arrogant gegenüber den Gastgebern ist. Unser erster Knoten in der Kasseler Tanzlinie war die Taschenabgabe an einem weißen Container. Ein immer wieder kehrenden Ritual, das uns fortan Knotenpunkt um Knotenpunkt begleitet. Die Containerfrauen tragen Seidenschals in petrol mit rötlichen Streifen. Daran soll man alle documenta-13-Helfer erkennen. Ticketverkäufer, Ticketprüfer, Eckensteher, Publikumszähler, Mahner und Aufseher tragen sie um den Hals, im Haar, um Hüften oder Handgelenke gewunden. Schlicht schön. Wenn ich dagegen an die Jugendkirchentagsspaghetti in grün …