Ausstellungen
Schreibe einen Kommentar

doc 13: Zeit, die es braucht

Installation: Thomas Bayrle, Foto: © Anders Sune Berg

Vier Menschen, 13×13 Kunstwerke (und noch ein paar mehr)…
Es duftet nach Lindenblüten, als wir frühmorgens in den Zug nach Kassel steigen. Unser Ziel- und Startpunkt dort: Kulturbahnhof. Charmant niedergerockt. Unübersichtliches, dabei doch klar gegliedertes Gelände, dessen ungeschönte Präsenz uns bereits kunstsinnlich macht. Einen Tag lang stürzten wir uns in den „Tanz“ der documenta 13. So nämlich fasst die Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev (CCB) die Kunstschau unschlagbar in diesem Satz: „Der Tanz war sehr frenetisch, lebendig, rasselnd, scheppernd, walzend, gewunden in Schlangenlinien und dauerte eine lange Zeit.“ Natürlich auf Englisch. So wie hier fast alle Bildinfos, Videos und Filme, was ziemlich arrogant gegenüber den Gastgebern ist. Unser erster Knoten in der Kasseler Tanzlinie war die Taschenabgabe an einem weißen Container. Ein immer wieder kehrenden Ritual, das uns fortan Knotenpunkt um Knotenpunkt begleitet. Die Containerfrauen tragen Seidenschals in petrol mit rötlichen Streifen. Daran soll man alle documenta-13-Helfer erkennen. Ticketverkäufer, Ticketprüfer, Eckensteher, Publikumszähler, Mahner und Aufseher tragen sie um den Hals, im Haar, um Hüften oder Handgelenke gewunden. Schlicht schön. Wenn ich dagegen an die Jugendkirchentagsspaghetti in grün denke…
Hier eine rückblickende Auswahl in fünf Werken. Eins für jeden und noch eins als Bonus für Pat. Den einzigen erfahrenen doc-Besucher, der zudem schon neben Beuys im Café saß:

#1 „The pixelated Revolution“ Installation von Rabih Mroué
Daumenkino? Interaktives Daumenkino, erklärt ein Seidenschalträger. Auf Knopfdruck kann man walzenden Panzerlärm oder anderen Sound hinzuschalten. Aber erst das Video im nächsten Raum oder die Erläuterungen an der Wand klären, ziehen den Betrachter ins Herz des Werks. Und das ist ziemlich grausam. Rabih Mroué hat Handyfilme aus dem Internet heruntergeladen, die auf makabre Weise das Töten in Syrien dokumentieren (hier ein video zur doc13 von artort dazu). Das Entsetzliche neben dem Töten ist der radikale Realitätsverlust, den Mroué uns zeigt. Die Handyfilmer nehmen Scharfschützen in den Fokus. Meist dauert es eine Weile, bis der Gefilmte es merkt, dann aber nimmt der wiederum den Filmer ins Visier, zielt und schießt. Die Filme taumeln, verlöschen. Offenbar haben die Getöteten nicht mehr auseinanderhalten können, was real und was digital ist. Der Blick auf den Bildschirm schien zu bedeuten: Keine Gefahr. Nicht für mich, ich schau ja zu. In Schulen zeigen, diesen Film.

#2 „Secretion“, Video von Willie Doherty
Ein eigenartiger Sog geht von diesem science-fictionartigen Film aus: abgewrackte Häuser mit abblätternden Tapeten, umgestürzte Bäume und dazu eine morbide Geschichte aus dem Off. Es geht um einen Mann, der Teil einer Truppe ist, die Militär-Gifttestschweinereien verdecken oder aufräumen hilft, was schließlich auffliegt, die Truppe taucht unter. Der Mann, ich nenne ihn mal John, muss fliehen, sich verstecken und krepiert schließlich an dem Pilzgift. Willie Dohertys Film suggeriert, dass unter der Oberfläche schleichend der Tod lauert. Der Drehort lässt sich sonstwo in den USA vermuten, bis die Kamera einen Container mit der Aufschrift „Altpapier“ streift. Später lese ich, dass Doherty rund um Kassel gedreht hat. Ein wunderbares Beispiel dafür, was Zeugenaussagen wert sind. Man bastelt sich aufgrund der eigenen Erfahrungen zusammen, was der eigene Horizont so hergibt. Bemerkenswert sind die eindrücklichen Bilder, auf denen eigentlich nichts passiert. Wir kriechen über, unter, durch die Tapete… Es wird einem fast schlecht dabei. Die Bilder saugen an und tragen fort, als taumle man besoffen mit hyperaktivem Hirn und unzureichend körperlicher Konstitution durch unwegsames Gelände. Die Kamera hält die unerbittliche Nähe und bewegt sich dabei ständig und gleichmäßig weiter. Das Leben, die Krankheit, der Tod – ein langsamer, unbarmherziger, ein gewundener Fluss.

#3 „The Refusal of Time” von William Kentridge
Die ich unbedingt sehen wollte, die lautlos rasselnde Jalousien-Installation der Koreanerin Haegue Yang, wunderbar anzusehen in einer Fernseh-Vorschau, und auch in der art so poetisch betitelt – „Schläft ein Lied in allen Dingen“ -, doch vor Ort berührt mich der Lamellentanz nicht. Dafür wirbelt uns einige Schritte weiter die scheppernde Installation von William Kentridge das Hirn auf. The Refusal of Time ist ein Mix aus Dada, Tanz, Poesie, Film, Zeichnung – zusammengefügt zu einer surrealistisch sepiagetönten Schwarz-Weiß-Film-Performance, die über alle vier Wände wandert. Über die Menschen hinweghuscht, die wie gebannt stehen, sitzen, schauen. Inmitten des Raums eine stampfende, pumpende Maschine, ein hölzernes Perpetuum mobile, ein herrliches Ding. Ein groteskes Herz für den grotesken Tanz-Treck, der an der Wand frenetisch voran schreitet, kontrapunktiert von Pauken und Tröten. Diese Zeitzurückweisungsmaschine, sie stampft und tanzt noch immer in mir drin, so wie die kahlköpfige, südafrikanische Tänzerin Dada Masilo, die an dem Stück beteiligt ist.

#4 „Flugzeug“, „Carmadeggon“, und Gebete vor Motoren
von Thomas Bayrle

Ein Flugzeug aus Flugzeugen aus Flugzeugen. Ein Werk des Frankfurters Städelprof Thomas Bayrle. Das Bild oben (das die documenta-Mediencrew dazu freigegeben hat) ist vor der Eröffnung aufgenommen und viel zu leer. Tatsächlich kleben vor dem Flugzeug in Trauben die lebendigen Kunstbesucher, so nah wie es irgend möglich ist ohne verscheucht zu werden. Sie zerlegen geradezu mit ihren Augen die Riesenmaschine in ihre Millionen Bestandteile an winzigsten Flugzeugen und können es kaum glauben. Wie die Puppe in der Puppe in der Puppe, nur gigantischer – wie es einer Maschine gebührt. Drumherum noch mehr Maschinen, Motoren und auch ein Film mit Minimenschchen, die erst auf einem Blatt herum turnen, dann zu Punkten werden, zu Staubkörnern. Das Stimmengewirr, das bei den Motoren erklingt, wird das unbeleckte Ohr irgendwo bei Menschenmengen verorten. Flughafen etwa, liegt nahe. Tatsächlich hat Bayerle seine Töne in der Kirche gesammelt, es sind Gebete, weswegen die vor sich hin schwengelnden Motoreninstallationen “Hochamt” heißen oder „Bitte für uns“…

Bayrle ist im ersten Beruf Weber. Er weiß, was Maschinengedröhn im Alltag heißt und was Akkordarbeit aus einem macht. Aber er weiß auch, wie faszinierend die Eintönigkeit des Immerwiederkehrenden sein kann. Er versteht, ein Flugzeug zu weben. „So einer, das ist für mich ein Künstler“, höre ich. Kentridge gehört auch dazu und auch die nächste, Nalini Malani. Leute, die zwei Jahre lang durch die Tiefen des Raums, der Geschichte(n), der Erinnerungen schürfen und wieder kehren mit zwei Gran Gold, aus dem sie alle Formen des menschlichen Schaffens, Leidens und Erhebens modellieren. Uns etwas geben wie schweres Wasser oder seltene Erden fürs Hirn.

Installation: Nalini Malani, Foto: © Payal Kapadia

#5 „In Search for the vanished blood“
Video/Schattenspiel- Installation von Nalini Malani

Der Raum verströmt die Atmosphäre eines Kinderschlafzimmers, in dem Mama zur Beruhigung ein Schattenspiel angestellt hat. Es passen kaum noch Menschen hinein, als wir da sind – und sie bleiben ewig. Getaucht in warmes Farbenlicht, gebannt, fasziniert von verwirrenden Bildfragmenten, die sich über die Wände winden. Handzeichen, laufende Geparden werden überlagert von Schatten, die wiederum von Malereien auf fünf sich drehenden Zylindern stammen. Ein wahrhaft vielschichtiges Bildwerk, untermalt von Geräuschen, die keineswegs beruhigend klingen. Ein Sog geht von diesem Lichttaumel aus. Man ahnt, dass es hier um Zeichen und Erinnerungen, um die Qual von Frauen geht. Erst die Recherche klärt, dass In Search für the vanished Blood ein Gedicht des Pakistaners Faiz Ahmed Faiz ist, das die Geschichte der Teilung von Britisch-Indien in Pakistan und Indien 1947 erzählt. Eine grausige Geschichte von aufgrund Religionszugehörigkeiten sinnlos vergossenem Blut. Malini gehört zu jenen Vertriebenen, mehr als zwei Jahre hat sie an den Bilderschichten gearbeitet.

Allesamt sind dies Tanzwerke mit Zeit. Zeit, die zurückgewiesen, erkundet, gebraucht und schließlich aufgearbeitet wird. Zeit gegen Krieg, Dummheit, Ignoranz. Zeit für Leben. Zwei bis drei Jahre stecken in diesen Werken! Jeder Betrachter wird sich wie eine Wespe das heraussäbeln, was zu seinen Erfahrungen passt. So ist unser Gehirn angelegt: wir vergleichen, der hirneigene Zensor merkt auf bei Ungewöhnlichem, macht die Plausibilitätskontrolle, verwirft und sortiert aus, was nicht passt. Der Rest wird eingefügt in das unglaubliche, unverwechselbare Lebenspuzzle, das uns treibt, aus dem wir Energie schöpfen. Wie wir dies tun, hängt durchaus damit zusammen, wo wir aufgewachsen sind – in Italien wie die doc13-Kuratorin CCB, an einer Durchfahrtsstraße im Ruhrpott, auf einem norddeutschen Bauernhof, an der idyllischen Bergstraße, oder in einem badischen Kaff – wie wir.
Es duftet wieder nach Lindenblüten in Frankfurt, als wir spätabends aus dem Zug von Kassel steigen, übervoll mit Eindrücken, denn: The dance was very frenetic, lively, rattling, clanging, rolling, contorted and lasted for a long time.

Schreibe einen Kommentar