“Wir sehen Menschen, wo andere Leichen sehen”
Als mein Vater vor sechs Jahren starb, hatten wir schon viele Male bei Schnee oder im Regen an Gräbern gestanden. Mit unseren Eltern, Cousins, Tanten, Onkeln und auch mit Freunden und immer neu gelernt, was Rilke längst aufgeschrieben hat – dass jeder seinen eigenen Tod stirbt. Mancher wild und durch eigenen Willen durch Messer oder Eiseskälte, einsam im Heim, oder als Drogenabhängiger, urplötzlich, schwer krank. Jede, jeder ging auf ganz eigene Weise – jedes Mal furchtbar. Bei meinem Vater war ich zum ersten Mal ganz nach dran. Sein Todestag und auch die Tage danach waren von unglaublicher Intensität. Ich erinnere unseren Besuch beim Bestatter wie durch einen Vorhang. Sehe kalkweiße Wände, einen Plastikhefter mit Klarsichtfolienseiten. Darin Anzeigenbeispiele und Bilder und Preise von Särgen. Gegenüber ein Mann im schwarzen Anzug, der uns mit schwerer Miene Vorschläge macht, Särge zeigt und Urnen, und dem meine Mutter in einer Tasche die Kleidung übergibt, die mein Vater im Sarg anhaben sollte.
Ganz anders mein Eindruck bei den Bestatterinnen Sabine Kistner und Nikolette Scheidler in einem Frankfurter Hinterhaus. Als ich mich dort zum ersten Mal umsehe, während Pat die beiden fotografiert, fühle ich mich sofort wohl. Schöne, teils alte Möbel, ruhige klare Farben, Kerzen, Bilder an den Wänden, in denen man sich verträumen kann, Bücher und – für alle Fälle – auf jedem Tisch ein Päckchen Taschentücher. Das soll ein Beerdigungsinstitut sein? Ich kann es kaum glauben. Ich schaue in den Raum, in dem nachher eine Trauerfeier statt finden wird, im Wasserbecken vorm Eingang schwimmen zwei Kerzen, was bedeutet: zwei Verstorbene sind da. In dem Raum, der einen in einen warmen Goldton hüllt, steht aufgebahrt ein weiß-schwarzer Sarg, der aussieht, als sei er mit Musiknoten bemalt oder in Notenblätter eingepackt. Ihm gegenüber ein Fenster, das in einen kleinen Paradiesgarten blickt: Sitzgelegenheiten und Blumen über Blumen. Geranien, Klematis, Geißblatt, wilder Wein…
Die beiden Frauen wollen anders sein. Es soll ein anderer Umgang herrschen mit den Toten wie mit deren Angehörigen. Auch Kinder haben bei ihnen Platz. Gestern hat ein kleiner Junge seinem Opa einen Keks in den Sarg gelegt. Kistner findet, man muss „Kinder immer fragen. Kinder immer einladen.“ Dass sie dafür eintritt, gründet auf einer eigenen, schmerzlichen Erfahrung, denn ihre Mutter starb als sie 12 war. „Ich durfte nicht zur Trauerfeier. Mein Vater wollte uns Kinder schützen.“ Dieses Nichtdabeigewesensein schmerzt bis heute. „Ich habe mit 30 erst angefangen zu trauern.“
Sabine Kistner war früher Klinikseelsorgerin und immer, wenn im Krankenhaus jemand gestorben war, hatte sie das Gefühl, „die Leute fallen danach in ein schwarzes Loch.“ Früher dachte sie wie ich, es wäre Schicksal, zum nächsten Institut an der Ecke zu gehen und dann halt durchzumüssen, durch dieses unpersönliche Prozedere. Dass man daran etwas ändern könnte, dass man jemanden in Ruhe Abschied nehmen lassen und dabei auch noch unterstützen könnte – diese Idee kam ihr erst, als zwei Frauen in Mainz „Grünewald und Baum“ gründeten. Sie waren die ersten von heute bundesweit 25 Bestattern, überwiegend Bestatterinnen, die es anders machen wollen. Keine von ihnen war Schreinerin oder übernahm einen Beerdigungsunternehmen der Familie. Allesamt sind sie Quereinsteiger, die vorher als Kampfkunsttrainerin, Psychologe, Erzieherin, Hebamme oder wie Nikolette Scheidler als Event-Managerin gearbeitet haben.
Scheidler wirkt auf mich wie der rationale Bodenanker, Kistner wie jemand mit Gottvertrauen – das schaffen wir schon, scheinen ihre Augen zu zwinkern. Die beiden Frauen sind recht unterschiedliche Typen und trotzdem, das merkt man, ziemlich beste Freundinnen. Vielleicht macht auch das die Atmosphäre aus. Als Patentante vom Sohn der Freundin die eine, als Trauzeugin der anderen die andere rechnen sie einander gegenseitig zur Familie. „Wir sind wie ein Ehepaar“, grinst Kistner, „schließlich sind wir wirtschaftlich voneinander abhängig. Und kämpfen mit denselben Problemen wie jeder Selbstständige. Wenn es nicht gut läuft machen sie sich Sorgen, ob gegen sie intrigiert wird, ob sie ihre Werbung ändern müssen oder was sonst der Grund sein könnte.
Ganz wichtig, sagen sie, „dass man über alles reden kann“. Dafür leisten sie sich regelmäßig Supervision. Also jemanden, der mit ihnen professionell über die ganz schlimmen Fälle redet, und auch beim Arbeiten über die Schultern schaut, um die beobachteten Stärken und Schwächen rückzumelden. Und sie haben das Glück zu einem Netzwerk von Gleichgesinnten zu gehören. Im BestatterInnen-Netzwerk haben sich die ersten 14 alternativen Unternehmen zusammengefunden, die sich seit 2004 gegründet haben. Gemeinsam haben sie ein Leitbild entwickelt und treffen sich einmal im Jahr zum Austausch. Hier wird unter anderem auch über Geld geredet. „Das kann man sonst mit keinem Bestatterkollegen“, betont Scheidler. Apropos – die beiden nehmen übrigens für ihren besonderen Service keineswegs besonders viel Geld. 2300-2500 Euro Bestatterkosten sind nach meiner Recherche normal. Wer sich nicht gerade einen Sarg für 2000 Euro aussucht wird auch mit Trauerfeier in deren Räumen und einer Aufbahrung in deren wunderschönen Abschiedszimmer damit auskommen.