Im Wald spazieren gehen? Nein danke. Vielen ist das offenbar zu langweilig. „Immer nur die Wege rauf und runter“, mault der Mann einer Frankfurter Hundebesitzerin und lehnt das Gassigehen dort rundweg ab. Je jünger der Mensch, desto langweiliger – keine action weit und breit. Außerdem: war man auch schon mal da, und Wald hat man ja auch schon im Fernsehen gesehen… In seinem Buch „Das letzte Kind im Wald?“ zitiert Richard Louv aus Interviews mit Kindern und Jugendlichen, die er nach ihrer Beziehung zur Natur gefragt hat, und ob sie gern draußen spielen. Es sind verblüffende Aussagen darunter, die die Erfahrungen vieler Eltern und Kinder auch in Deutschland bestätigen. Darüber hinaus zeigen sie, wie erschreckend groß die Distanz der Kinder zur Natur geworden ist. Louv beobachtet seit fünfzehn Jahren die schleichende aber grundlegende Veränderung von Kindheit in den USA. „Wir Babyboomer“ (geboren zwischen 1946 und 1965) werden auf lange Zeit die letzten sein, die als Kinder ganz selbstverständlich Erfahrungen in Feldern, Wiesen, Wäldern und am Wasser gemacht haben, glaubt er. Er beschreibt eine seltsame Beziehung der Kinder zur Natur, „eine Mischung zwischen Unsicherheit, Distanz und Sehnsucht und gelegentlichem Trotz“. Paul, ein Viertklässler aus San Diego sagte im Interview: „Ich spiele lieber drinnen, weil da die ganzen Steckdosen sind“; ein anderer Junge: „Meine Eltern fühlen sich nicht wohl, wenn ich tief in den Wald gehe – ich darf nicht zu weit reingehen.“ Er geht dennoch in den Wald, sagt es den Eltern aber nicht. Und dann gibt es unter seinen Beispielen auch ein ernsthaftes, kreatives Mädchen, die für sich einen geheimen Ort im Wald zum Träumen hatte – bis der Wald abgeholzt wurde – „als hätten sie ein Stück von mir abgeholzt“. Ein Jugendlichen aus Potomac schließlich antwortete mit entwaffnender Nüchternheit: „Wie die meisten nehme ich mir, was sie (die Natur) hergibt und ich mache mit ihr, was ich will.“
Der Autor nennt mannig-fache, größtenteils mit psychologischen oder neurologischen Studien untermauerte Gründe, weshalb eine große Distanz zur Natur und damit das Fehlen von intensiven, direkten und bisweilen auch mal gefährlichen Naturerfahrungen schädlich für Menschen ist. Die Konsequenz aus der Entfremdung von Natur, natürlichen Prozessen, Tieren, der Produktion von Essen oder dem Wetter, fasst er zum Begriff „Natur-Defizit-Störung“. Es zeige sich in mangelnder Konzentrationsfähigkeit, zunehmender Aggression, und einem sichfremdfühlen – nicht nur draußen. Weil Natur als Hintergrundfolie für Filme, Werbung und Videospiele genutzt wird, scheint man überdies alles schon zu kennen: Grand Canyon, Wasserfälle, Wälder… Technisierung und Zeitrationalisierung des Alltags, aber auch gewachsene Hygiene- und Sicherheitsbedürfnisse nennt er als Gründe für die Entfremdung. Ein Medizinprof erzählte Louv, dass er Studenten aus Mangel an Vorwissen vieles kaum vermitteln könne, etwa, dass das Herz wie eine Pumpe funktioniert. Sie können sich darunter nichts vorstellen, weil sie weder im Garten eine Pumpe kennen gelernt – noch im Haus beim Reparieren oder Säubern eines Siphons geholfen haben.
Aber auch der Naturschutz halte die Kinder davon ab, eine enge Beziehung, eine Bindung zu Wald und Wiese aufzubauen. Dabei gilt das Konfuziuswort, das insbesondere die Reformpädagogik für sich entdeckt hat, noch immer: „Was ich höre, vergesse ich, was ich sehe, erinnere ich, was ich berühre, verstehe ich.“ Auch als Erwachsener weiß man noch genau wie eine Eisenstange oder wie Holz schmeckt. Diese Erfahrung rührt aus dem Kleinkindalter – sofern man sie macht… Das ist das paradoxe Dilemma des Verbot-Naturschutzes. Dadurch kommt der Ökologiebewegung der Nachwuchs abhanden, dem Nachwuchs die Ökologie. Vielleicht sollten deutsche Naturschützer sich die Dänen zum Vorbild nehmen: auf der kleinen Insel Fur hängen am Strand Schilder mit der Aufschrift „Take only pictures, leave only footprints.“
Eine Stimme aus dem Buch jedoch hat sich mir besonders eingeprägt: eine Mutter, deren Kinder gelangweilt waren, nervten und es ablehnten, draußen zu spielen. Sie erzählt, dass ihr der Kragen platzte und wie sie die Kinder rausschmiss: spielt draußen auf der Wiese, macht irgendwas, seid erst in zwei Stunden wieder da! Sie waren nach zwei Stunden nicht zurück, erst viel später und berichteten glücklich, auf Bäume geklettert zu sein. Wunderbar sei es gewesen. Happy end? Am nächsten Tag lehnten die eben noch so glücklichen Naturkinder ab, noch mal auf die Wiese zu gehen: „Da war’n wir doch schon.“ Wie kommen Eltern aus dieser Nummer wieder raus? Louv glaubt, das funktioniere nur über eine Art magischen Naturflash. Ein intensives, tief berührendes Naturerlebnis. Doch genau das hatten diese Kinder doch wohl am Tag zuvor gehabt?!
Vielleicht ist es aber doch die einzige Möglichkeit, genau das wieder und wieder zu initiieren – und selbst hin und wieder mitzugehen – damit die Kinder das Erlebte mit den Erwachsenen teilen können. Und nicht gleich „Nein! Zu gefährlich!“ schreien. Auf Bäume klettern, wer darf das noch? Im Garten des ältesten Bauernhofkindergartens, den es in Deutschland gibt, bei den Wurzelkindern von Anne Muhs, stehen Apfelbäume. Die Bäuerin und fünffache Mutter begründete das Bauernhofkindergartenkonzept. Ihr Ziel: Kindern ermöglichen, mit Tieren und inmitten des Bauernhoflebens aufzuwachsen – so wie sie selbst. Deshalb hat sie bei der Versicherung darum gekämpft, das dieser Garten ein zulässiges Gelände für Kinder ist. Geklärt werden musste, ob Bäume als Spielgeräte gelten, oder als mögliche Gefahrenquellen.
Eine andere Art Naturkindergarten gibt es mitten in München. Die Leiterin Edeltraud Prokop hat schon vor zwanzig Jahren gefunden, dass Kinder eine „artgerechte“ Umgebung brauchen – zwei Gruppen gehen dort bei Wind und Wetter jeden Vormittag „ins Gelände“. Das kann an der Isar sein, oder im kleinen Wäldchen um die Ecke, es kann aber auch in der Stadt sein. Wir haben beide Einrichtungen 2008 in unserem Buch „SpielenDenkenLernen“ porträtiert. Weil uns die Haltung der Erwachsenen wie der Kinder dort imponiert hat: wir sahen die Kleinen selbstbewusst mit Hammer und Säge arbeiten, Schweine und Hühner füttern, verträumt im Stroh spielen oder andächtig Ferkel im Arm halten. Das waren tatsächlich Erfahrungen erster Klasse, man konnte das in ihren Augen sehen.
Ein Jahr darauf haben wir in Ettingen die „Freie aktive Natur- und Montessori-Schule“ besucht. Die Kinder dort waren im Grundschulalter und die Schule war im Wald. Damals war der „Schulraum“, in dem sich das ganze Lehrmaterial zum Lesen, Schreiben, Rechnen und für naturwissenschaftliches Lernen befand, ein mongolisches Zelt, eine Jurte.
Wir haben mit diesen Kindern unvergessliche Schulstunden unterm Blätterdach erlebt – und später die Initiatoren und Eltern gefragt, was sie denken, dass diesen Kindern diese Schulerfahrung bringen wird. Wachsen die Jungen und Mädchen dort nicht In einer idyllischen Enklave auf? Überlegten wir. Fühlen sie sich den anderen, den Nachbarskindern nicht meilenweit entfernt? Sind sie in deren Augen nicht einfach bedauernswerte Freakkinder, ohne Fernsehen und ohne Medienkompetenz? Wenn sie aus dem Wald in ihren kleinen Wohnort Ettenheim zurückkehren, da gibt es den Elektroherd wieder, der Ghettoblaster wummert im Auto auf der Nebenspur. Dazu Mitgründerin der Schule und Lernbegleiterin Sabine Schaumann: „Mag sein, aber ich finde, wenn ein Kind so was mal erfahren hat, dann hat es einen viel weiteren Horizont. Viele Kinder sind sich ja gar nicht bewusst darüber, in was für einer Welt wir leben. Unsere schon und die kriegen auch ein ganz anderes Bewusstsein der Umwelt gegenüber. Ich denke, für ihr spätere Entwicklung ist das, was sie jetzt erleben, einfach die Basis. Sie werden alle später ein Handy haben, Fernsehen gucken, vielleicht am Computer spielen. Aber sie erhalten hier eine Grundausstattung, von der ich denke, darauf können sie später mal wieder zurück kommen. Es geht darum, ein Gefühl für das Ganze zu entwickeln.“
Sie praktizieren, was Louv sich wünscht. Der Wald sei Ritalin für die Nerven, meint er und zitiert eine Studie von Stephen und Rachel Kaplan, die neun Jahre lang Teilnehmer von Zwei-wöchigen Wald-Expeditionen begleiteten. Mit ihrem Datenmaterial begründeten sie die „Attention Restoration Theory“, nach der die Natur das Gehirn entlastet, weil es sich dort ganz automatisch zurechtfindet und nicht gezielt konzentrieren muss. „Wenn man eine Umwelt findet, wo die Aufmerksamkeit automatisch funktioniert, kann sich die zielgerichtete Aufmerksamkeit ausruhen“. Dazu passt auch die Erkenntnis von Herbert Benson vom Mind/Body Institute in den USA: Er bezeichnet das Gegenteil des angeborenen Flucht/Kampf-Reflexes oder fight-or-flight-response als „relaxation response“. Diese Entspannung jedoch müsse anders als der Fluchtreflex bewusst in den Tag eingebaut werden. Nur eine gezielt im Alltag verankerte Entspannungsphase könne Stress und Anspannung komplett runterfahren. Ich fahre dafür morgens mit dem Fahrrad durch den Wald. Park geht auch.
Zum Schatz von Louvs Erinnerungen gehört, so hoch wie irgend möglich auf Bäume zu geklettert zu sein, „bis die Wipfel schwankten“, dem Wispern der Blätter, dem Rauschen des Windes gelauscht und sich unendlich frei gefühlt zu haben. Auch ich bin Bäume hoch geklettert und mitunter hat’s mich auch mal runtergebrezelt. Ich sehe noch heute meine Handinnenflächen, die ich mir nach einem solchen Sturz betrachtete: über und über gespickt mit Kieselsteinchen. „Macht nichts, nur Tapete“, hat mein Vater gesagt. Muss man halt auch lernen, wie man abstürzt – und wieder aufsteht.
Schaut man sich dagegen die normalen, verplanten Kinderalltage an, den Mangel an Freispielzeit und an Naturerfahrungszeit und die Reaktionen der Kinder und Jugend-lichen – die coolen, abschätzenden Posen, ihr Miteinander im Alltag –, könnte Louv verdammt Recht damit haben, dass hier eine Basiserfahrung abhanden kommt. Der Faszinationsfaktor Staunen und die Fähigkeit, unabhängig entscheiden und selbst handeln zu können. Der Schatz der Freiheit.
Richard Louv: Das letzte Kind im Wald?
Beltz Verlag, Weinheim 2011, 358 S. 19,95 Euro