„Der Anblick, den Europa heute bietet, ist sehr traurig, aber auch sehr lehrreich. Auf einer Seite ein Kommen und Gehen von Diplomaten und Höflingen, welches jedesmal, daß die Luft anfängt, nach Pulver zu riechen, augenfällig zunimmt. Man knüpft und löst Bündnisse; man schachert und verkauft das menschliche Vieh, um sich Verbündete zu sichern. „Soviel Millionen Köpfe, welche unser Herrscherhaus dem eurigen überläßt; soviel Hektar Land, um sie darauf zu weiden, diese Häfen, um ihre Wolle zu exportieren!“ Und es handelt sich darum, wer in diesem Geschäft den anderen besser betrügen kann. Das nennt man in der Sprache der Politik: ‚Diplomatie‘.
Andernteils Kriegsrüstungen ohne Ende. Jeder Tag bringt uns neue Erfindungen, um unsere Nächsten besser ausrotten zu können, neue Ausgaben, neue Anleihen, neue Steuern. Patriotismus zu schreien, in Chauvinismus zu machen, den Hass zwischen den Völkern anfachen, wird in der Politik und im Journalismus zum einträglichsten Geschäft. Sogar die Kindheit wird nicht verschont; man reiht die kleinen Buben in Bataillone ein, man erzieht sie im Hass gegen den Fremden, man dressiert sie zum blinden Gehorsam jenen gegenüber, die gerade die Regierung in Händen haben – einerlei, welcher Partei dieselben angehören. Und wenn diese Kinder aufwachsen und einundzwanzig Jahre erreicht haben, wird man sie wie Maultiere mit Patronen, Proviant und Werkzeugen beladen, man wird ihnen ein Gewehr in die Hand geben, und man wird sie lehren, nach dem Klang der Trompete zu marschieren und – wenn es ihnen von vorgesetzten Militärpersonen befohlen wird – sich gegenseitig wie wilde Tiere umzubringen, ohne sich je zu fragen: Warum? Zu welchem Zweck? Ob sie den Armeen einer fremden Nation gegenüberstehen, oder gar ihren eigenen Brüdern, die durch das Elend zur Empörung getrieben werden – einerlei, die Trompete ruft, sie müssen gehorchen!
Dies ist es, worauf all die Weisheit unserer Regierenden und Erzieher hinausläuft! Dies ist das einzige Ideal, das sie uns geben konnten, und dies in einer Zeit, wo die Ausgebeuteten aller Länder es immer mehr als höchste Lebenspflicht erkennen, daß sie sich über die Grenzen hinweg die Hände reichen sollten!
„Ah! Ihr habt den Sozialismus nicht gewollt? Also gut, ihr werdet den Krieg haben – den dreißigjährigen, den fünfzigjährigen Krieg!“ sagte Alexander Herzen nach 1848. Und wir haben ihn; wenn der Kanonendonner für einen Augenblick aufhört, so ist es nur, um Atem zu holen, und anderswo mit neuer Kraft wieder anzufangen, während der europäische Krieg – das allgemeine Handgemenge der Völker – seit Jahrzehnten droht, ohne daß man weiß, wofür man kämpfen wird, mit wem, gegen wen, im Namen von was für Prinzipien, in wessen Interesse?
In früheren Zeiten, wenn es einen Krieg gab, wusste man wenigstens, wofür man sich hinschlachten ließ. – ‚Dieser König hat unseren König beleidigt – also bringen wir seine Untertanen um!‘ ‚Dieser Herrscher will dem unseren seine Provinzen wegnehmen? – Sterben wir also, um seiner Allerchristlichen Majestät dieselbe zu erhalten!‘ Man schlug sich wegen der Rivalität der Herrscher. Das war dumm, und die Könige konnten deshalb für einen solchen Zweck nur ein paar tausend Menschen anwerben. Aber was zum Teufel ist die Ursache, dass heute ganze Völker bereit sind, sich aufeinander zu stürzen?
Die Könige haben in den Fragen des Krieges nichts mehr zu sagen. Sie werden alle Impertinenzen und Beleidigungen der Nachbarherrscher und -völker ruhig einstecken, solange die Bankiers und Fabrikanten ihrer Länder – diese nennt man heute ‚Patrioten‘ – ihnen nicht den Befehl geben, ihre Armeen in Bewegung zu setzen. In Russland wie in England, in Deutschland wie in Frankreich schlägt man sich nicht mehr für die Launen der Herrscher; man schlägt sich für die Erhaltung der Einkommen und der Vergrößerung des Reichtums der allermächtigsten Herrschaften.“ …
Dies ist ein Aussschnitt aus „Der Krieg“, der Text wurde von der Anarchistischen Bibliothek archiviert. Er wurde entnommen aus Peter Kropotkin – Worte eines Rebellen (rowohlt 1972. S.52-57). Der Text erschien unter dem französischen Titel „La Guerre“ in der Originalausgabe Kropotkin, Petr A.: Paroles d’un révolté bereits 1885. Die Übersetzung aus dem Französischen stammt von Pierre Ramus (Rudolf Großmann), einem österreichischen Aktivisten und Theoretiker des Anarchismus und Pazifismus. Neue Debatte hat den Beitrag unbearbeitet übernommen, um durch den Blick auf die Vergangenheit eine umfassende und kritische Diskussion über die Ereignisse der Gegenwart zu ermöglichen.
Dank an Harry für den Text.
Es ist an der Zeit – Hannes Wader & Konstantin Wecker & Reinhard Mey – Live 2014