Gesellschaft, Tagebuch
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So blau


 
Gesperrt, ausverkauft, abgesagt. Das Beste daran: Es ist still. Flugplan aus der Zeit, als ich Kind war und das Rauschen am Himmel beruhigend. Ich erinnere es als tiefes, fast angenehmes Sommerbrummen. Zuletzt gab es dieses Gefühl, als dieser unaussprechliche Isländer Asche spuckte. Wir lagen am Flussstrand – und sahen einen surrealen Film: keine Kondensstreifen am Himmel. Auch kein minütlich nervenzerrendes Dröhnen, zu dem sich das Brummen heute ausgewachsen hat. Nicht mal Schiffe und deren Bugwellen. Ungewohnte Abwesenheit gewohnten, menschlichen Lärms.

Wie in meinem Kopf. Zwar gibt es natürlich das Nachrichtenrauschen: Infektions- und Todesraten statt Bundesligatabelle. Ausgangsbeschränkung, Grenzschließung, Besuchsverbot… Doch aus der Mitte dieses Tinnitus-Shitstorms starrt gespenstisches Nichts. Und zieht Bürgerrechte aus uns und Kraft. Ich muss trotzdem raus. Was mich sofort auf Corona-Modus dreht. Distanz halten – und wer einem auf die Pelle rückt, unerträglich finden. „Bitte halten Sie Abstand, mein Herr“, ermahnt einer der neu eingestellten Abstandshalter im Supermarkt. Danke. Das war gestern. Der erste Laden, in dem ich – ja – nach Klopapier suchte. Wir haben nämlich nicht den Keller voller Rollen. Die Versorgungslage ist super, sagt die Politik, gibt kein Logistikproblem, wird alles aufgefüllt. Nada, nix, nein. Wird nicht. Seit einer Woche versuche ich Mehl, Klopapier und Hefe zu kaufen. Jetzt hängen überall Zettel, dass an eine Person nur je ein Kilo Mehl und ein Paket Toilettenpapier abgegeben wird. Aber, aberaber… Haben die modernen Großfamilien alle ihre Angehörigen geschickt? Oder sich in ihrer Familienkutsche gleich umgezogen und sind 10mal hintereinander in den Laden spaziert? Ich war gestern bei Hit, Rewe, 2 DMs, Alnatura und Nahkauf und sah nur leere Regale dort, wo sich sonst Klopapier stapelt. OMG. Also Süßigkeiten. Und mein zweites Buch to-Go: Margaret Atwoods Gedichtband „Die Tür“.

Auch das was Neues. Buchläden mussten ja schließen. Auch unser Meichsner&Dennerlein natürlich. Sind trotzdem da. Weil Bücher existenziell sind. Und machen alles korrekt: Publikumsverkehr gibs nich. Aber man kann per Anruf oder Email bestellen, und das Gewünschte dann an der Tür abholen. Als Pat mir das erzählt, greife ich sofort zum Telefon: Einmal Margaret Atwood bitte, Tipps für die Wildnis. Beim Abholen frage ich, ob sie auch Gedichte von ihr haben? Hm. Hanns Dennerlein verschwindet im Laden. Und findet raus: Original erschien es 2007, deutsch im Berlin Verlag 2014 und 2016. Nicht da. Und nicht bestellbar, weil vergriffen. Aber vielleicht bei einem Kollegen? Er besorgt es schließlich vom Antiquariat Rüger gegenüber. Zweisprachig auch noch – so cool!

In letzter Zeit sind nur Dichterinnen unserer Lyrikbib zugewachsen. Hilde Domin war eine Entdeckung für mich. Bei einer Lesung – sie las alles zweimal. Mit diesem Osterlächeln… Auch Nora Gomringer musste ich erst live erleben, bevor sie bei uns einzog. Und zuletzt die beiden Bände „Der Koloss“ von Sylvia Plath und „Ich, selbst auch ich tanze“ von Hannah Arendt. Beide Autorinnen haben in ihrem Leben überhaupt nur einen Gedichtband veröffentlicht. Aber, was für welche… Von Sylvia Plaths Gedichten habe ich durch den Blog eines Neurologen erfahren, von Hannah Arendts durch Online-Recherche in ihrer Bibliographie.

Ich halte den zweiten Gedichtband von Margaret Atwood in der Hand. Den ersten gibt es wohl wirklich nicht mehr. Er war (wie bei Sylvia Plath) ihr erstes Buch: The Circle. Sie erhielt dafür die erste ihrer vielen Auszeichnungen. Ein Filmportrait auf Arte brachte mich letzte Woche wieder auf ihre Spur. Absolut coronafrei und deswegen so belebend. Dieses spitzbübische Lächeln. Diese innere Stärke. Diese vielschichtige Wortmacht. Mit ihrer bescheidenen Grandezza hat mich diese 80-Jährige völlig bezaubert… Geblieben sind auch die Bilder von ihr und ihrem Mann Graeme Gibson. Ein sich Kraft gebendes, starkes Paar. Ich lasse das Buch auffallen, das noch ungelesen ist:

Bear Lament – Lamento eines Bären

You once believed if you could only
crawl inside a bear, its fat and fur,
lick with its stubby tongue, take on
its ancient shape, its big paw
big paw big paw big paw
heavy footed plod that keeps
the worldwide earthwork solid, this would
save you in a crisis. Let you enter
in its cold wise ice bear secret
house, as in old stories. In a
desperate pinch.
That would share
its furry winter dreamtime, insulate
you anyway from all the sharp end lethal
shrapnel in the air, and then the other million
cuts and words and fumes
and viruses and blades. But no,
not any more. I saw a bear last year,
against the sky, a white one,

rearing up with something of its former
heft. But it was thin as ribs
and growing thinner. Sniffing the brand-new
absences of rightful food
it tasted as ripped-out barren space
erasing of meaning. So scant,

comfort there.
Oh bear, what now?
And will the ground
still hold? And how
much longer?

Oh Bär, was nun? Oh, Leute! Lest Gedichte, nicht Klopapier. Wenn ihr schon alle in den Wald geht, was zumindest Deutsche wohl seit je tun, wenn wir unsere Ruhe haben wollen. Oder wenn uns die Welt auf den Kopf fällt. Mit dem Flugplan von 1955 ist es wunderbar ruhig dort. (Immerhin ein Beitrag zum Klimaschutz). Wenn ihr wieder heimkommt, prüft die Macht der Worte. Von Politikern nie, von Philosophinnen nicht unbedingt, aber von Dichtern erwarte ich Wahrheit. Oh, rettendes Hirnfutter unterm Himmel. So blau.
 
 
 

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