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Wiesbadener Fototage 2015: HeimatX

Wiesbadener FototageBleib! Schau. Mich an. Wenn Bilder so zu mir sprechen, selbst wenn sie „Wurschtbud“ sagen, haben sie mich am Haken. Drei Serien gibt es bei den diesjährigen Wiesbadener Fototagen, bei denen ich blieb und schaute: „Wester World“ von Eckart Bartnik (darunter das Foto mit der Wurschtbud), „Breeda en Sestre – Brüder und Schwestern“ von Mika Sperling und „Empty Spaces“ von Katerina Belkina – außerdem mochte ich die Montagen von Brice Bourdet. Vielleicht, weil ich derzeit selbst gern mit Überblendungen arbeite. Gibt ja Leute, die das Gebastel nennen. Ficht. Mich nicht an.

Doch, bevor ich erzähle, was wir in den vier von fünf Ausstellungshäusern gesehen haben, noch mal eben auf Los. Ich zitiere aus der Ausschreibung des Wettbewerbs, denn er passt gerade zu gut. Es gab zwei Leitplanken, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen – hier der „Europäische Ansatz“. So wie gerade die europäische Idee an ihrem Geburtsort vergewaltigt wird, lohnt es sich unbedingt diesen Part nochmal zu lesen:

„Die Europäische Union wird von vielen Bürgerinnen und Bürgern lediglich als Wirtschafts- und Verwaltungsraum wahrgenommen. Je mehr dieser ausgebaut wird und je mehr auch die Globalisierung alle Bereiche unseres Lebens durchdringt, um so dringlicher scheint das Bedürfnis vieler Menschen, sich zu „verorten“. Allgegenwärtig ist der Wunsch, Überschaubarkeit in Lebenszusammenhängen herzustellen, die heute in der Verflechtung nicht mehr zu überschauen sind. – Was bildet heute unsere sozialen und historisch-kulturellen Beziehungsmuster? Wo finden wir sie in unseren Städten? Ist Heimat eine Idee, ein Gefühl, ein Ort…?”

Ich verstehe es so: Heimat – also daheim, zuhause, Vertrautheit – kann überall sein, aber doch nur da, wo ich verwurzelt bin, und wo meine Kraft herkommt. Ein soziales Bindegewebe, für das man sich allerdings einsetzen, an dem man arbeiten muss. Reicht also nicht, regionale Wurst zu kaufen oder dem Nachbarn keinen Müll in den Garten zu werfen. Meine Nachbarn… Kenne ich sie überhaupt? Weiß ich, was sie machen? Interessiert mich, was mit dem Viertel geschieht?

Wester World ist eine Serie, die dorthin zielt. Eckart Bartnik schaut die Menschen genau an und lässt sie ihrerseits glasklar zurückschauen. Bleib! Sein Blick auf die Leute ist liebevoll direkt, der auf die Landschaften Caspar-David-Friedrich-mäßig verklärt, der auf die Dorfstraßen-Stills purer Realsurrealismus. Kurz: Wester World ist auf unserer Shortlist for Publikumspreis.

Mehr soziales Bindegewebe zeigt Mika Sperling. Sie porträtiert, ausgehend von ihrer eigenen mennonitisch-deutsch-russischen Großfamiliengeschichte andere Großfamilien in Deutschland, Russland und Kanada. Bleib! Das Thema Migration leuchtet hier. Auch die großen Bilder von Nora Bibel – was für ein Name! – laden zum Bleiben ein. Sie hat das Thema dreifach verknotet und Vietnamesen aus Deutschland in ihrer Heimat Vietnam fotografiert.

Die beiden Themen „Heimat in dem Kaff, wo ich als Deutscher herkomme”, oder “Heimat als Flüchtling in Deutschland” wurden überwiegend gespielt. Oft allerdings an der Oberfläche ohne das Thema oder den Betrachter wirklich zu berühren. Bilder etwa, auf denen – aus weißdeutscher Sicht – Flüchtlinge zu sehen sind oder das Chaos ihrer Zimmer. Die Fotos von Heimatdörfern wirken teilweise, als habe man sich wegen des Wettbewerbs an früher erinnert.

Und schließlich die dritte visuelle Variante von Heimat: der eigene Körper. Als Fluchtpunkt, von dem aus man erst Heimat suchen oder finden kann. Dazu zwei Serien im Frauenmuseum, die ich eher peinlich fand – und eine geradezu luzide Variante von Katerina Belkina. Bleib! Eine Bildersequenz, bei der Leere, Einsamkeit und Perfektionsfanatismus einen unberechenbaren Faktor wie Heimat ausradieren. Zeugnisse der Abwesenheit oder des Verlusts von Heimat? Identitätsflüchtlinge? Ich sehe auch Suche nach dem Verlässlichen. Ich. Bin. Hier.

Vier Ausstellungsorte haben wir besucht: in der Sparkassenversicherung hingen Eckart Bartniks Wurschtbud, die Montagen von Brice Bourdet (der junge Menschen in ihren Studi-Zimmern auf dem Bett porträtiert, und diese Porträts mit Landschaftsbildern ihrer ursprünglichen Herkunft überblendet. Schöner Effekt – und es ist ja so, dass die heimatliche Landschaft das Denken prägt) sowie Nora Bibels Vietnam. Im Ministerium für Wissenschaft und Kunst die deutsch-russischen Brüder und Schwestern sowie die verlorene Heimat der Katarina B. Unsere letzten beiden Stationen waren Frauenmuseum und Kunsthaus. Vor der dazwischen gelegenen Apotheke standen Menschen Schlange. Eine Frau nickte mir zu – doch das ist eine andere Geschichte.

Jetzt erstmal: Hingehen! Noch bis 12.7. läuft die Ausstellung immer am Wochenende und immer eintrittsfrei.

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