Fährtenlesen, Natur und Umwelt
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Keep it wild! Fährtenleser sehen mehr

Schonmal ein Eulengewölle auseinandergepult? „Uuh! Wie eklig“, sagen die einen – „Boah! Was war drin?“, die andern… Ich gehör zu den anderen. Seit einem Jahr bringen Tierspuren in jeder Form – vom zierlichsten Krallenabdruck bis zum unförmigsten Speiballen – meine Augen zum Leuchten und mein Hirn zum Schnurren: Was ist das? Von wem stammt es und warum ist es hier?

Globetrotter ist an allem schuld, das will ich mal festhalten. Schuld, dass ich jetzt am Lineal hänge (immer dabei, um gefundene Fußspuren ausmessen zu können), dass Pat an irgendwelchen Matschlöchern auf mich warten muss (wo man solche Spuren findet) – und dass wir neue Regalmeter für Trackingbücher brauchen (in denen ich alles nachschauen kann). Und natürlich, dass ich Bücher gekauft habe wie „Spurenführer“, „Tracks & Signs“ oder Het Prentenboek.

Wenn ich also freudestrahlend gräuliche Klumpen von Brücken klaube, oder unter Burgmauern finde, verdanke ich das einem Paar neuer Gummistiefel… Irgendwer an der Kasse hat wohl ein Heftchen mit Veranstaltungshinweisen dazu gepackt. Beim Durchblättern Zuhause – machen wir sonst nie –, bleiben wir beide bei einem speziellen Outdoorangebot hängen – Fährtenleserausbildung der Wildnisschule Wurzeltrapp: „Wir werden dich in die Geheimnisse der Fährtenkunde und Vogelsprache einweihen.“ „Pure Magie…Stalking Wolf…alle Kurse draußen…“ Echt jetzt? Die Vögel sagen, ob ein Fuchs kommt und wo er läuft? Boah. Willichwissen… Wochenendkurs für uns beide? „Nee, mach du mal … und nimm den längeren“, sagt Pat. Gebucht.

Ein Jahr später bewege ich mich in einem anderen Wahrnehmungsmodus als früher. Guckhörriechen sowas. Jedes der sechs Wochenend-Seminare war wie ein neues Brillenglas für mehr Tiefenschärfe. In den Wochen dazwischen hatte man als Tracker-Azubine ordentlich zu schuften. Lange her, dass ich Hausaufgaben machen musste und dazu so viel lernen.


Unsere Ausbilder Axel und Simone warnten gleichwohl schon in den ersten Stunden: Einmal Tracker immer Tracker. Und Jep. So isses. Früher hab ich regelmäßig mit dem Rad meine Runde durch den Wald gedreht – und war nach 30, 40 Minuten zurück. Heute brauche ich für dieselbe Strecke locker das Vierfache. Mindestens. Weil, Gewölle meinen Weg kreuzen, Reste gefressener Tiere, Kackhaufen allen Alters, und aller Sorten – und natürlich lebendige Tiere zu Wasser, an Land und in der Luft… 1000erlei Anlässe zum träckisch Gucken. Also, Augen auf beim Einkauf! Er könnte dein Leben und das deiner Mitmenschen verändern.

Input, die Erste

Los gings im Spessart mit sechzehn Menschen aus unterschiedlichen Berufen, die eins einte: Die Lust am Draußensein. Außerdem der Wunsch zu verstehen, und mehr, noch mehr über Zusammenhänge wissen zu wollen. Die Beschnupperrunde ganz anders, als ich es sonst kenne und hasse. Jeder erzählte von sich, was er oder sie sagen mochte. Zuvor Danksagung (an alle, die das Wochenende möglich gemacht haben) und Reinigung der Sinne durch Räuchern.

Dieses Innehalten, Dank ausdrücken und Geschichtenerzählen gefiel mir gut, das Räucher-Ritual dagegen erwischte mich kalt:  Eine Muschelschale mit drin glimmenden Kräutern (Beifuß, Salbei und mehr) ging reihum – und dazu eine Bussardfeder, um Stress und böse Gedanken weg und den Rauch um sich zu streichen. Bin ich Indianerin? Mein Bauchkopf sagte „Luft!“ – und schnell weitergeben den Räucherkram. Irgendwann später wird mir ein Trackerfreund sagen, dass Naturvölker sich beräuchern, um für Tiernasen nicht so nach Mensch zu riechen. Okay. Dann her mit Rauchpfännchen und Federwisch.

Endlich gings los. Erstmal die Basics, klar: Trittsiegel – einzelne Trittspur. Fährte – eine Reihe solcher Siegel. Im Zickzack oder in Gruppen. Ein schöner Merksatz lautet: Natur ist Chaos. Das sei die Grundlinie oder Baseline – und wir Tracker suchten nach Störungen. Nach einer bestimmten Form von Ordnung also. Ich höre noch immer Axels Stimme: Muster, Trends, Tendenzen. Darum gehts. Der Refrain des Jahres ist gefunden: Muster, Trends, Tendenzen. Hugh.

So unterschiedliche Typen, und doch habe nicht nur ich das wärmende Gefühl, unter überwiegend Gleichgesinnten zu sein. Eine Spur?! Und Zack: Alle voll auf Fokus. Dennoch. Sechzehn Menschen auf einem Haufen sind anstrengend. Und manche anstrengender als andere. Bei jedem Modul-Wochenende brauche ich Zeit für mich. Alleinsein. Um in der Spur zu bleiben, nicht kaputtzugehen. Mich zu emanzipieren von der Gruppe und ihren Strömungen, ihren Forderungen, ihrem Druck auch manchmal. Also, früh raus und schon mal eine Runde laufen.


Die Voraussetzungen dafür könnten nicht besser sein. Unser Ausbilderduo hat quer durch die Republik wunderbare Ecken ausgesucht: Lüneburger Heide, Nürnberger Land, Ostsee, Fichtelgebirge… Natürlich nicht (nur) der schönen Landschaft wegen. Es ging vielmehr um die Vielfalt von Lebensräumen und – damit zusammenhängend – der jeweils vorkommenden Tierarten.

Die Trackerkolleginnen Beate und Maria nehmen wie ich diese Früh-Auszeit. Oft treffen wir uns beim Losgehen, nicken einander zu, gehen jede ihren Weg und genießen das morgendliche Krafttanken. Beim ersten Treffen in frischer Schneelandschaft. Weiß und weiß und was? Ein … Wildschwein? Oh, wow! Wildschwein. Ich folge den Spuren, mach Fotos und auf einmal ein Zaun und Ende. Hm. So hoch können Wildschweine wohl nicht springen, oder?  Ich suche nach weiteren Spuren – und muss zurück.

Dieses Tier ist mein erster Lehrer. Mit Simones Stimme fordert es: Stell dir gute Fragen. Bleib kritisch. Schau genau hin. Irgendwann später kam es mir – Warum bin ich nicht um die Ecke gelaufen, und hab hintern Zaun geschaut? Warum habe ich nicht andre Ideen durchgespielt? Wer könnte denn auch hier gewesen und gesprungen sein?

Waldwiese my Love

Zurück zuhause mit Aufgaben wie Steckbriefe von Huftieren schreiben und zeichnen, Sitzplatz finden, Karte des Platzes zeichnen, Bodenbeschaffenheiten recherchieren…


Sitzplatz. Mag sich unspektakulär anhören, ist aber eine Institution, ein echter Bringer. Eigentlich lag es nahe, wo meiner sein würde: Auf der Waldwiese in unmittelbarer Nähe zu zwei Seen, wo wir immer Damwild sehen – und unseren Kater Max begraben haben. Trotzdem habe ich erstmal das Stadtwaldrevier drumherum durchkämmt, mich dabei verlaufen und prächtige Stellen gefunden.

Darunter eine Lichtung, an der ein Bach längs fließt. Als ich hinkam lag dort ein Damhirsch-Schädel mit Geweih, zwei weitere ohne, also Damwild-Ladys, – und noch zwei Geweihschaufeln. Poah – ein Jahrhundertfund. So was hatte ich mir immer gewünscht. Alles sehr cool, aber, es war nicht „mein“ Platz. Denn: diese Tiere hatten hier ja nicht einfach so das Zeitliche gesegnet. Der Jäger hatte seine große Trophäe – in Sichtweite des Hochsitzes – der Natur zum Reinigen und Bleichen überlassen.

Also zurück auf los. Auf unsere Waldwiese. Die hab ich dann erstmal vom Müll befreit. Weinflaschen, Plastikbeutel, Chipstüten sowas. Bah. Zwei Trinkgläser fand ich an eine Baumwurzel gelehnt. Hier haben zwei gelegen und es sich schön gemacht… In einem der Gläser fand ich ein winzigkleines Vogel-Skelett. Wahrscheinlich war das Kerlchen des süßen Tropfenrests wegen hineingeschlüpft und kam dann nicht mehr raus. Das jedenfalls ist der traurige Film in meinem Kopf. An mir, was Gutes draufzusetzen.


Ich kenne die Wiese gut. Aber dort eine Stunde lang nur sitzen – das war neu. Meditation pur. Während meines Trackerjahrs war ich fast jede Woche da. Hab also rund 50 Stunden zu allen Tag- und Nachtzeiten da gesessen. Bei Regen, Nebel, zartem Frühlingslicht, brülleheißer Sonne, goldener Herbststimmung und minus zwei Grad Frost. Ich war keinen Tag krank.

„Sitzplatz“, das bedeutet auch: Vor Ort Notizen machen und zuhause Protokoll schreiben. Etwa so:

21. Juni, 4 Uhr 20.
Drei Damhirsche. Später noch eine Hirschkuh.
Vogelansitz: Harmonie. Singen. Leiser, kurzer Bodenalarm, links von mir näherkommend, dann Stille. Stille.
Ich schau nach oben – nichts, keine Vogelwächter in den Baumwipfeln. Was ist los? Auf einmal nehme ich genau vor mir einen Fuchs wahr, der die Wiese quert – und in exakt die Richtung verschwindet, wo ich zuvor die Fuchs-Losung (Kackwurst) gefunden hatte. Die Vögel hatten ihn tatsächlich angekündigt.

Der Beginn des wärmeren Wetters zeigte sich auch durch Haarbüschel vom Damwild. Sie rupften es maulweis aus. Ein schönes Büschel wie zum Tausch dort, wo ich zuvor einen Apfel hingelegt hatte. Federleicht und warm. Als spürte ich die Essenz und Lebendigkeit des Tiers in meiner Handhöhle.

Irgendwann stolpert man als Fährtenleserin natürlich auch über weniger hübsche Fraßspuren und tote Tiere. Spannend. Ich, die ich früher umkippte, wenn Blut floss, beuge mich jetzt über tote Tiere. Schau genau hin bei jedem Roadkill, um alle Einzelheiten aufzunehmen.


So habe ich meine erste und bisher einzige Sperberin gesehn. Oder nahe meinem Sitzplatz den Rest eines Krötendinners.

Bussard oder ein Marder? Ich weiß es nicht, jedenfalls war das Tier sauber gehäutet. Beinmuskeln und Bauch. Blau, weiß und rot. Ein Weibchen? Das Glibberpaket in unmittelbarer Nähe war wohl unbefruchteter Laich. Hab ich das Mahl unterbrochen? Paar Tage später kam die Reinigungsmannschaft: Rothalsige Silphen, schicke Aaskäfer, deren hubbelige, schwarze Panzer der eingetrockneten Krötenhaut zum Verwechseln ähnlich sehen. Fressen, Paaren, Eier legen – bei Silphens geht das alles ratzfatz.

Input, die Zweite

Das zweite und dritte Treffen verbrachten wir unter Brücken und auf dem Acker. Die ersten Fußspuren, Yay! Dachs im Trab, Fuchs, Hund, Reh, Fischotter und Marder… Wer? Welcher Fuß, welche Gangart? So lauten die immer wieder kehrenden Fragen. Und unsere Aufgabe war immer: Zeichnen, was wir sehen. Auf meinen ersten Zeichnungen sieht man – so gut wie nichts. Ausdruck des inneren Knotens. Ich sah entweder erst gar nichts – Fuchs? Wo!?! Oder vermochte es nicht zuzuordnen. Erst mit der Zeit wurden die Konturen scharf, die Umrisse klar – sah man, um welchen Fußabdruck es sich handeln könnte.

Schon die pure Unterscheidung von Hund, Fuchs, Katze oder Marder sind anfangs (und auch später noch) Herausforderung genug, aber dann auch noch zu erkennen, ob das Tier gelaufen, getrabt, gesprungen oder galoppiert ist…

Mein erstes Trackingrätselerlebnis hatte ich um die Ecke an einem Bach. Ich seh sie schon von weitem: Herrliche Trittsiegel, paarweis auf der anderen Uferseite. Marder vielleicht? Hin und messen, genau hinschauen, Abstände zwischen den Tritten messen. Zur Hölle! Wer, bitte, war das? Tier, Pfote – soweit klar. Aber ich kapier nicht, wie dieses Tier gelaufen ist. Nicht, was es da gemacht hat – und hab wirklich keinen blassen Schimmer, welches es gewesen sein könnte.


Die Zeichnungen und das Blättern in der frisch angeschafften Trackerliteratur, bringen mich nicht weiter. Solche Abdrücke hats da nicht. Geholfen hat – Instagram. Da nämlich postet eine Mittrackerin genau so eine Spur, Unter den Hashtags finde ich die Lösung: #raccoon. Raccoon? Waschbär! Hatte mir nicht vorher eine Katzensitterin erzählt, ihre Katze sei von einem Waschbär gebissen worden? Bei uns? Quatsch! Hatte ich gedacht. Hier gibts doch keine Waschbären. Tscha. Von wegen. Da war der Beweis.

Wer in der Lage ist, solche Beweise sauber zu sammeln, kann Tiere lokalisieren, die andere nie zu Gesicht bekommen – und damit durchaus auch mal Forschung oder Wildtier-Monitoring behilflich sein. Auch deswegen lernen wir das. Aufgabe bis zum Abschluss: Fährten von 14 verschiedenen Säugetieren sauber zu dokumentieren. Dafür galt es, die bekannte Umgebung zu scannen oder auch zu verlassen, um Tiere und ihre Spuren ausfindig zu machen, die es hier nicht gab. Wildschwein zum Beispiel. Gibts bei uns in direkter Nähe nicht.

Deswegen stand ich irgendwann auf einem Acker, wo ich Wildschweine vermutete. Spuren gabs en masse, aber nicht von Wildschweinen, sondern von Rehen. Leider von zu vielen. Einzelne Fährten waren nicht auszumachen – aber eine Hundespur. So gings mir oft – gestartet für Nutria, zurückgekommen mit Wildschwein. „Don’t try so hard“, ermunterte Axel mich einmal, dreimal…

Gut, dann eben Hund, dachte ich, und packte mein Tracker-Besteck aus. Zollstock und Lineal, Bleistift und Block sowie gefärbte Holzspieße, um die einzelnen Tritte zu markieren – und auch auf Fotos dokumentieren zu können, wie das Tier gelaufen ist. Ja, und wie denn? Ich brütete ewig darüber, versuchte mir vorzustellen, wie der Hund seine Füße gesetzt hat, machte Verrenkungen und scherte mich nicht darum, was die Spaziergänger wohl dachten.

Die meisten Zuschauer reagieren ja mit einer Art von Ehrfurcht und lächeln still – oder fragen direkt, was man da treibt. Sieht schon sehr wissenschaftlich aus, wenn man mit Messinstrumenten und Block und voll konzentriert in der Matsche hantiert. Erst einer hat mich bisher gefragt, ob ich „Fährten bestimme?“


Am schnellsten war ich mit meiner Spurenaufnahme wohl an einem Wintermorgen: Es schneite, und vor mir flitzte ein Eichhörnchen über die Straße. Auf genauso so eine Chance hatte ich gehofft. Also hopp: Mit zittrigen Händen alles ausgepackt. Fotos gemacht, gemessen, schnell, schnell, bevor der Schnee alles zudeckt: Schrittlängen, Spurgruppenlängen, Zwischengruppenlängen, Spurbreiten. Und die Längen und Breiten der einzelnen Tritte natürlich.
Die ersten Autos kamen – ich stellte mich breitbeinig vor meine Spur, sie kurvten um mich herum. Die Schneekehrmaschine! Schwitzen im Schneetreiben. Aber ich schaffte es. Uff – und ab nach Hause.

Im Fichtelgebirge dann ein großes Highlight für mich: Bei meiner Auszeit-Morgenrunde finde ich eine Biberspur. Trotzdem die anderen, auch die Ausbilder, sagen: „Glaub ich nicht.“ Ich müsse mich geirrt haben, viel zu klein die Füße, und überhaupt. Ich bleib dabei. Bauch und Kopf sagen: Biber, Biber, Biber. Zu siebt sind wir am nächsten Morgen los, um eine Spurdoku zu machen, wenns stimmt. Stimmte. Gemacht. Und typische Fraßspuren dieses Jungbibers fanden wir auch.

Mein Trackerjahr war voll Neuem. Voller Geschichten, Spuren, Radtouren, Reisen, Trauer und Selbstvergewisserung. Ein Lesejahr auch. „Der Heimatinstinkt“ von Bernd Heinrich etwa oder Robert Macfarlanes „Alte Wege“ und „Die Karte der Wildnis“. Bei all dem gings immer ums Draußensein, um das Prinzip „Natur ist Chaos“ – und „Spuren sind Ordnung“. Um das Selbsterleben von Extremen. Von Begegnungen mit besonderen Menschen und besonderen Tieren, vom Wachsen und Weitergeben, dem Umarmen des inneren Tigers. Oder auch grundsätzlich vom mineralischen Skelett der Erde und dem Überleben als Tier und als Mensch.

All das weckte das Mädchen in mir, das im Wald auf Bäume kletterte und mit Hähern sprach – oder eher kreischte.

Das in alle Ritzen schauen, das Warten und Beobachten musste ich nicht neu lernen. Neu Lernen musste ich, nicht zu stark zu wollen. Ruhe zu bewahren und die Essenz des Aufgenommenen wirken zu lassen. Und wenn‘s klappt: Freuen. Übers Wiedererkennen von Waschbärspuren, Grünspechtgelächter oder Fuchskacke.

Einige Monate nach der knallharten Abschlussprüfung mache ich einen lang gehegten Plan wahr: Ich übernachte zum Dank für all die Erkenntnisse bei Vollmond an meinem Sitzplatz im Wald. Ich sehe Fledermäuse, wie Pat zuhause. Später höre ich Damhirschinnen rufen (so neu, dass ich’s später rausfinden muss) – und eine Waldkäuzin schreien. Das pure Glück.

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