Gesellschaft, Menschen
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OoH: Identität-to-go

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Während ich meine über die letzten Wochen gesammelte To-do-Liste abarbeite, und staune, wie glatt die geschulten oder automatischen Stimmen durch meine Ohrschnecke trudeln, rieselt vor meinem inneren Auge plötzlich ein lila Weihnachtsbaum. OoH, was wollte ich sagen?

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Bis letzte Woche stand er im Schaufenster – was gab es da eigentlich früher? Blumen? Ein Baum wie ein Pudel. Klappbar, aus lila Lametta und Plastik. Er hat mich…

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…angehalten. Ich sah genauer hin. Weiß. Fontänenartig sprühten aus der Lilalalamettaspitze weiße Fitzelchen, die sich dann unten in einem aufgespannten weißen Schirm sammelten wie zu Fasching die Kamellen. Wurden wohl permanent unten eingesaugt und oben wieder ausgespuckt. OoH. Was passiert denn hier? „Smile-up“ stand auf einem Schild. Das Fenster gab den Blick auf futuristisch designte, und blitzweiße Sitzmöbel frei. Dazu dezente Paravents und Menschen im Zahnarztoutfit. Jaha: Hier werden Zähne aufgehellt.

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Jetzt nicht, muss arbeiten. Interview noch mal durchlesen… Mein Gesprächspartner von der GfK hat das Konsumverhalten der Babyboomer und ihrer Kinder erforscht – in seiner Studie werden die einen „Wohlstands-“, die anderen „flexible Generation“ genannt. Man solle die Jungen nicht unterschätzen. Das Adjektiv „bieder“ träfe auf sie kein bisschen zu. Vielmehr sei es eine Generation die sich wie keine andere vorher mit einer pointillistischen Welt auseinanderzusetzen habe. Elegant formuliert. Man könnte auch sagen, mit einer Welt, deren vormals langfristig existierende Strukturen zunehmend geschreddert werden. Die eigene Lebensbiografie, die Gegenwart, die Zukunft – alles nur Punkte ohne Nummerierung.

Wer überleben will, muss sich demnach gut verkaufen, steht unter dem Druck permanenter Selbstvermarktung. Dieser Zwang, prophezeit die Studie, werde sich auch auf das Einkaufs- und Ernährungsverhalten aller anderen, die noch im Arbeitsalter sind, auswirken. Dazu dies Zitat von Katja Kullmann: „Oft arbeiten die Gehirne ganz normaler Leute, zum Beispiel meines, wie eine Marketingagentur.“

Hört sich stressig an. Und das Ergebnis? Noch stressiger. Denn diese ganz normalen Leute (wie sie, du und ich) sind ja dabei, eine dauerhaft gespaltene, multiple Persönlichkeit zu entwickeln. Zurück zur Studie: Es gibt ein Drinnen, das „inhome“, – und das muss perfekt sein, perfekt natürlich, perfekt authentisch, perfekt kuschelig. Und ein Draußen, „OoH“ = out of Home – Arbeitsmarkt, Shopping, Partnermarkt. Auch hier alles bitte perfekt, perfekt vorzeigbar, all-kompatibel und sorglos. Achtung: hier lauert mehr als eine 15-Minuten-Prominenz, mit der die Andy Warhol die Leute noch entzückte. Heute sind alle immerzu auf Sendung! Sagt der Experte.

Ist es das? Das es so macht? So glatt geschmirgelt, sauber, und automatenfreundlich; egal was passiert? OoH Hm! Und dann wohl die doppelte Ladung, wenn sie wirklich auf Sendung sind. Radio, TV, Print. In mein Inhome, Alter, alle Moderatoren eines Formats reden gleich. Tun, so als seien sie Weltenschiffkapitäns. Erklären mal eben, wie’s geht. Voll verkauft.

Postpaket für Sie…
Sonja hat dieses Paket für Sie gepackt – ich hoffe, zu Ihrer Zufriedenheit!
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Der permanente Druck, gut rüberkommen zu müssen bringt die flexible „Generation Ypsiloner“, so werden die heute 15- 35-Jährigen auch genannt, um ihre Ruhe. Life-to-go: Zeig deinen Freunden, dass dir das gefällt! – Hilf Sandra beim Feiern! Von unterwegs gesendet. 5 Freunde im Chat! – Verdammt aufreibend diese auf alle Hirne übergreifende Selbstverkaufe. Hab ja auch schon mitgevotet (will ja nicht immer nur miesmeckern), mitbewertet und sogar für Lovefilm eine Kurzkritik über The Hunter (toller Film, echt jetzt) geschrieben, weil jemand sehr Flexibles fand, diese vielen Deppen, die den Hunter unmöglich fanden, gehörten gekontert.

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Konterr…? Hölle! Flexible Dauerprostitution. Direkt neben dem Laden, der einem die Hackelchen aufhellt gibt’s noch so ein spacig-weißes, neues Geschäft. Vorher war da eine alte-Damen-Boutique. Pastellfarbene Twins-Sets, karierte Röcke so was. Jetzt heißt es: Raus aus den Klamotten und für „clean skin“ gesorgt. Auf dem weißen Sofa, das man drinnen sehen kann, zwei schwarz-weiße Kuhfellkissen. Im Fenster ein Päppchen mit Hinweisen zur „clean-skin“-Prozedur, Vorher-Nachher-Bilder, wissenschaftlich getestet undso… Hm. Ich denke noch ans pieksige Kuhfell, als ich das Schild eines Friseurs passiere: „Sie lassen wachsen? Wir waxen!“ – und im überübernächsten Fenster ein Mädel, das mit Mundschutz an den Nägeln einer andern feilt. Lauter klitzekleine Späne. Nicht Sternen-, Zellstaub markiert die neue Arbeit. Markiert Punkt für Punkt die Suche nach Identität.

Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?

 

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