Autor: Sylvia
Filets, Marterl, Zeitensprünge
Wie ist es eigentlich weitergegangen? „Time is a great teacher“, findet der schottische Künstler Andy Goldsworthy (gerade und zum ersten Mal in Deutschland zu sehen in den Opelvillen in Rüsselsheim) und er sagt noch was Schönes: „Wenn ich meine Arbeit beschreiben sollte, würde ich sagen… ich arbeite mit Zeit.“ Wir auch. Mit, gegen, durch? Die Zeit hatte mal ne wunderbare Serie, den Zeitsprung, im früheren Zeit-Magazin. Thema war genau dieses „Wie ist es weitergegangen?“ 1993 war ein Zeitsprung von uns. Viele Fotos waren da noch schwarz-weiß. Noch. Damals hat Pat ein 10-Years-after Foto von einem Kreuz gemacht und der Zeit-Redakteur fand es faszinierend, dass hier eine Pendelbewegung sichtbar, und eine weitere, unsichtbare womöglich schon im Anschwung war: 1982 nämlich stand dieses Kreuz vor der Kulisse der Ölraffinerie Caltex nahe Flörsheim, und damit unmittelbarer Nähe eines heiß umworbenen Geländes, dem „Filetstück der hessischen Wirtschaft“. Der Vertrag mit der Ölraffinerie endete nämlich damals, die Böden wurden regeneriert und die Nähe zu A3 und Flughafen machte das Areal hochattraktiv. 1993 sah es dann so aus wie auf …
Zeichen an der Straße: Njet-Jets!
Schwupps und – passt! Das Ortsausgangsschild Egelsbach hat ein neues Hemd. Gut, da ist bisschen Luft – aber so ist das eben bei Flughäfen, klein oder groß – die wollen immer wachsen, da muss man in XXXL denken. Ich zupfe hier und da, steige von meiner Leiter und – wie im Cartoon: „Es guckt wieder kein Schwein.“ Präziser ausgedrückt: keiner reagiert. Radfahrer truppweise, Jogger mehr als Flugbewegungen – und alle schauen gezielt vorbei. Ins Leere. Vielleicht sind sie verblüfft. Gehen Strick-Aktivisten ja sonst eher bei Nacht und Nebel raus, um ihre Werke anzubringen, vermummt, mit Spitznamen, psst! Mädels lasstma, braucht’s gar nicht. Liegt vielleicht auch am Thema. Blümchen und Pilze verschrecken die Durchschnittspassanten wohl weniger als eine, wenn auch verspielte Ansage. Denn: natürlich weiß jeder hier, worauf das durchgestrichene Njet-Jets anspielt. Net-Jets ist das Unternehmen, dem 80 Prozent des größten Verkehrsflugplatzes seiner Kategorie gehören, und es steckt selbst wiederum in der Brieftasche des superreichen Amis Warren Buffet. „Sitzt es gerade?“ Endlich sagt mal einer was. „Sie sind bestimmt von der Presse?“ Gerade mal nicht. Gerade …
In Strömen: Lebensräume – Flugrouten
Freitag, 9:30 kühl aber sonnig „Hier riechts gar nicht nach Kirche“ – als wir Freitag die Bilder hängen, schnuppern die Ersten gleich rein. Tatsächlich, es riecht nach Druck, nach Farbe – aber – wie riecht Kirche? Die Sonne scheint, die Bilder hängen, die Knäuel für die Strickaktion liegen in Körben bereit und auch die gestrickten und gehäkelten Flugzeuge sind alle fertig, harren der Ausstellungseröffnung. Die wollenen Flieger werden symbolisch für die Flugbewegungen in der Region stehen und beim Strick-In einen ebenso symbolischen Deckel bekommen… So hatte ich’s mir vorgestellt: Wenn massenhaft aktionshungrige Menschen kommen, stricken wir erst den Deckel und dann der kleinen Kirche noch ein Lärmschutzband. Sonntag: 15 Uhr Dauerregen Aber – der Mensch denkt, die windige Windsbraut lenkt, und dann kam Sonntag. Kam alles anders. Es tritschelte, tratschte, schüttete, goss und floss. Sturzbäche waren die Gassen… Der Himmel hörte nicht auf, die Erde zu wässern. Ging auf alle über, aber nicht über uns allen auf. Jammern? Mitheulen? Die Versuchung war da, aber, wer erst mal nass ist, den kann wohl nichts …
Die K-Frage: Zeit für Fritz?
„Ideen sind das Geld von Morgen“ – lautet der Text eines Werbe- Plakats, der mich nicht mehr loslässt:. Die Schrift war eine Montage aus Geldscheinen. In seiner Plattheit ist es ja kaum zu überbieten, dabei ist es Werbung für den Art Directors Club. Eigentlich nicht der Rede wert, und doch. Es ist eine Weile her, da hing an fast der selben Stelle ein anderes Plakat im Zentrum ein aalglatter Jüngling, schick aufgetakelt, breites Grinsen – und die Aussage war etwa die: „Geschissen auf die Werte – eigentlich wollen wir doch alle nur eins: viel Geld verdienen (egal wie) und gut leben (egal auf wessen Kosten). Und weil die neueste Plakatierung diese platten Werbebotschaften perfekt abrundet, beschreibe ich es auch gleich noch: „Pommes im Ofen, Zeit für Fritz.“ Der Junge, für den Mama jetzt Zeit hat, (weil sie zum ersten Mal in ihrem Leben die Pommes nicht selbst gemacht hat?) sitzt etwas unentspannt auf dem Tisch vor ihr. Ätzend. Das Weltbild, das Erziehungsbild, die Wortwahl. Viele sagen ja, der Journalismus sei tot (gespart) – die Werbung …
Blockupy: Alles ist verboten!
Der schwarze Block Frankfurt schwitzt ordentlich und hat, zwecks besserer Unterscheidung, auf dem Rücken nicht nur „Polizei“, sondern rote, blaue und neongelbe Schildchen mit römischen Ziffern angeklettet. 5000 demonstrieren am Paulsplatz, vor der deutschen Bank, vor der EZB und am Römerberg. Sie halten außerdem einen grünen Lungenflügel Frankfurts besetzt: Die Taunusanlage. Verrammelt und abgeschottet. Wer da durch will, muss schon eine Sondererlaubnis haben, also Banker, Rechtsanwalt oder einer deren Dienstleistenden sein. Touristen, Spaziergänger, Radfahrer, Jogger – müssen draußen bleiben. Die ganze Innenstadt von baden-württembergischen Polizist_innen abgeriegelt, die den verwirrten Irrfahrern nicht mal sagen können, wie sie zum Bahnhof kommen. Frankfurt Mitte Mai: Seit Montag ist Panik angesagt: Die Deutsche Bank packt ihre Skulpturen ein und zieht einen fünffachen Ring von schwarz bespannten Zäunen um ihre Türme. 40.000 gewaltbereite Demonstranten seien unterwegs, der HR interviewt Geschäftsleute in der Innenstadt und wünscht ihnen am Ende „viel Glück“, die Polizei empfiehlt: Eltern sollen ihre Kinder nicht in den Kindergarten bringen, Banker und Rechtsanwälte nicht Kostüm, Schlips und Anzug tragen, sondern „unauffällig“ in Freizeitkleidung kommen (unauffällig? Können die gar …
Ausstellung: Lebensräume – Flugrouten
Eva strickt, läuft, redet gegen den Lärmteppich über Offenbach – und sie liebt, Zeichen zu setzen – Eva Reiß, Chefin der Evangelischen Kirche in Offenbach. Am liebsten sind ihr bekennende Zeichen mit Witz und Aussage und, ja, sie liest dieses Blog. Und weil es bei ihr gezündet hat – Ausstellungen sind Kinder von Begegnungen – zeigt sich die Offenbacher Stadtkirche in diesem Sommer mit unserem Blick auf Rhein-Main. Es ist ja hier ein bisschen wie im Ruhrpott: im Ballungsraum, denken viele, gibt’s eh keine intakte Natur, keine Ruhe mehr. Stimmt nicht. Frankfurt ist eine kleine, eine ländliche Großstadt. Eine Finanzmetropole mit feinen Kräuter- und Blumengärten zu Füßen. Und auch Offenbach, gern abgezoffte, kleine, kreative Stadtschwester, träumt sommers wie winters gern am Main. Wir haben alles! Museen, Erdbeeren, Apfelwickler, Häfen, Kulturheidelbeeren, Konzerte und Spargel, Pharmariesen, Global Youth Village, Filmfestivals und Zecken. Multikulti in jedweder Hinsicht und mit jedweder Verkehrsanbindung zu Wasser zu Lande und – in der Luft. Schwäne überfliegen Wasserstraßen, Kraniche trompeten über uns hinweg. Am lautesten, stetigsten und zahlreichsten im Luftraum aber sind …
Stay, Yahye stay! Lasst ihn endlich sein Leben starten
Das Ausländergesetz ist nicht für die Menschen da, es regelt nur den Umgang mit ihnen durch die Behörde. Chef der Frankfurter Ausländerbehörde, 2003. Wir treffen den Ex-Kindersoldaten, Flüchtling, Rapper, wir treffen Yahye (spricht man Yachje) bei sich zuhause. Er checkt die Deutsch-Hausaufgaben in seinem knallrot gestrichenen WG-Zimmer unterm Dach. Betroffenheitsgetue und Winkelzüge von Anwälten sind nicht sein Ding. Flucht soll vorbei sein, die Zukunft beginnnen – er will ein Bleiberecht für dieses Land, dafür arbeitet er mit aller Kraft. Er blättert in seinem Heft. Alles erledigt? Der ebenfalls tiefrote Teppichboden schlägt eine trotzige Falte, der Junge mit den starken Oberarmen, dem runden Gesicht und der männlichen Stimme hat ihn selbst verlegt. Mit 13 ist er aus Somalia nach Polen geflohen. Allein. Letzten Sommer, mit 17, flieht er von dort nach Frankfurt – und wird kurze Zeit später aufgefordert, „freiwillig“ wieder auszureisen. „Fliegen oder Knast“, so schätzt er die Alternative ein. „Dann doch lieber sehen, was mir in Polen einfällt“, entscheidet er, packt und stellt um auf Überleben. Am nächsten Morgen um acht würde er …
Das Gedicht: Spring
Leer räumen den Kokon, den Hort der Häutungen. Beziehen das Unbezog’ne, Neue den mehrfach, den leeren Raum entziehen dem andern, dem Noch-nicht entringen das Hier-ich! Alles kann sein vor der Niederkunft. Ein Finden, Schwingen und Austreiben. Aufziehn den Elternkreis. Aber das Band, die alte Feder der Unruh, Zug und Gegenzug Wellentalschmerz und Bergung bleibt als Furche des Zwischenstands. Wölbt die Lippen des Gucklochs die Weiße der Wände sprengt den Staub des Nichts und Wiedernichts. Bleibt zwiefach geheftet: Hasta la Vista! Vaterhands Muttermunds Baby. Spring, die Augen in die Ferne. Gib, der Zukunft Raum, dem Neuen Tür – wie immer es sei. Es gilt. Die Ansprünge erkennen und ertragen, die Spannung neu verdrahten: Ab jetzt. Den Vertrag mit dem Morgen schon gezeichnet, Deal. Die Kindheit wiegt, sie bleibt zurück.
Jetzt erst Recht! Erst recht jetzt?
Von der Terminaldecke mit Blickrichtung der Abflugtafel hängt ein riesiges Plakat, Aufschrift: „Freitag schon auf Montag freuen!“ Nette Begrüßung, auch wenn’s nicht wirklich den Demonstranten gegen Ausbau und Fluglärm gilt. „Jetzt erst recht“, die heutige Parole der BI Flörsheim-Hochheim, in Form knallroter Pappen ausgegeben, ist eine passende Antwort. Inmitten des Schilderwaldes blitzen die Pappen überall hervor, verleihen der montäglichen Demostunde einen nachdrücklichen roten Faden. Auch sonst haben sich die BI-ler was einfallen lassen für: als Leitfiguren auf der Bühne und an der Spitze des Demozugs eine Troika stahlblonder Hochheimer „Stewardessen“ (im Funkenmariechen-Kostüm), ein Fluglärmlied nach der Musik des Lieds „Skandal um Rosi“, Refrain hier: Skandal in Rhein-Main – und während des obligatorischen Rundgangs durch den Terminal bedröhnt eingespielter Fluglärm die nach Ruhe schnappenden Fluggäste. Es ist die letzte Demo vor der Entscheidung des Leipziger Gerichts und für rund 2000 Leute scheint dies ein fester Termin im Wochenplan zu sein (Freitag schon auf Montag freuen). Bei allem Spaß: sicher würden die Topfdeckelschläger Eimertrommler und (verbotenen) Trillerpfeifer diesen Termin gern und sofort streichen – wenn, ja, …
