Tagebuch
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Double Vision – wollene Mathematik

Meine Double-Vision-Decke! Endlich. Fertig! Vor zwei Jahren dachte ich noch: Das wird nix mehr, ich schmeiß den ganzen Klumpatsch weg. Aber… Es steckte so viel drin. Zeit, Geld, Lebensgeschichte. Zwei Frauen haben dran gestrickt, von denen eine nicht mehr lebt – meine Mutter. Mit ihr war ich in einem Darmstädter Vorort im hundert Jahre bestehenden Woll-Laden Bachmann, und ließ mich dort von der fast ebenso alten Besitzerin beraten. Gefühlte Stunden verbrachte ich dort mit der Auswahl der Farben (wie geduldig sie dort waren – und wie sich das gelohnt hat!).

Die Idee dazu stammt von der Strickplattform ravelry. Fotos der bereits von anderen kühnen Nadelschwingerinnen fertig gestellten, Strickstück gewordenen Matheaufgabe waren faszinierend und verheißungsvoll. Matheaufgabe? Ja, denn: Trotzdem es zehn verschiedene Farben sind, die ich nach meiner Vorstellung zusammengestellt habe, wirkt das Ganze harmonisch. Das liegt daran, dass jede der Farben mit jeder kombiniert wird. Oder wie die Designer Pat Ashforth und Steve Plummer es formulieren: „The systematic arrangement of colors means that any combination will look good, in any order, because it will always look planned and symmetrical.“ Durch diesen mathematischen Kniff eignet der Mischung eine besondere Harmonie. Würde man sie diagonal falten, würde jede der beiden Seiten exakt der anderen entsprechen.
2012 habe ich die Decke entdeckt. Damals reifte mein Plan, einerseits meiner Mutter eine Aufgabe, andererseits uns diese Decke zu bescheren. Wir kauften Wolle, ich übersetzte die Anleitung für sie – los gings. Auf ihrer Seite mit dickeren Nadeln als auf meiner, weil sie viel fester strickte. Unerwartetes Zeugnis von Unentspanntheit.

Im Gestrick kann man sich ebenso verlieren, wie man sich daran festhalten oder sogar konzentrierend entspannen und heilen kann. In meiner Erinnerung sind es viele, viele Stunden voller Herbstsonne und Winterdunkel, die ich darin verstrickt habe. Unter anderem im Zug auf dem Weg zum 60. meiner Freundin Anna. Viel Freude an der puren Präsenz des Materials – und viel Aufmerksamkeit für die Farbfülle. Aber auch viel Geknoddel, weil die Fäden doppelt verstrickt werden, und sich daher verdrehen und verzwirbeln. Trags mit Fassung oder ringe mit jeder Minute. Stricken als Aufgabe der Persönlichkeitsentwicklung. Die ersten L-förmigen Bahnen mit 20 Quadraten waren die längsten, das Schlussstück war rosa und nur ein einzelnes Quadrat. Irgendwann war die Rohfassung fertig. Dann strickten meine Mutter und ich noch eine andere „American-Afghan-Decke“ Decke zusammen – für sie. Da musste man dann nur die Quadrate zusammennähen und eine Umrundung machen. Haben wir gemacht – und das Teil war ihre Freude – heute liegt sie bei ihrem Enkel.

Die andere aber – während unser Nest geräumt wurde und unsere Mütter und eine Tante immer wunderlicher und pflegebedürftiger wurden – blieb im Rohzustand. Eigentlich warteten die neun regenbogenbunten L-förmigen Bahnen, plus einem Quadrat, nur drauf zusammengenäht zu werden. Aber… Genau das war der Knackpunkt, die Hürde, die To-Do-Schranke. Denn es war ja klar: Das sah nicht nur so aus, es war aufwändig. Also räumte ich die Tüte mit den Bahnen mal hier hin, mal da hin. Nahm mir vor, es endlich in Angriff zu nehmen und sofort entmutigt doch wieder Abstand von der Idee.

Und dann: Kamen die Motten! FuckFuckFuck! Selber schuld, aber trotzdem schlimm. Ich nahm die Bahnen in die Hand, und unten rieselten kleine Körnchen raus. Mottenkacke. Verdaute Buntheit. Weg damit! Weg damit? Ich brachte es nicht übers Herz. Ich popelte alles durch, entfernte Kokons und Mottenköttel. Ein Haufen mit schwer beschädigten, einer mit weniger, und einer mit nicht beschädigten Strickteilen. Ratet, welcher der größte Haufen war. Schließlich packte ich alles in die Tiefkühltruhe zum Tiefenentmotten.

Wieder raus. Keine Zeit. Wieder rein. So. Dann fasste ich mir ein Herz und reparierte peu á peu alle Löcher und strickte manches Quadrat neu. Dann durchatmen. Wieder in den Tiefkühler damit. Dann zusammennähen. Tiefkühler. Zum Schlussakkord habe ich mich diesen Winter aufgerafft und alles umstrickt. Die ganze Decke an der Nadel. Und nu? Zehn Jahre nach dem ersten Maschenschlag liegt sie da, in purer mathematischer Schönheit. Hie und da spitzen Fadenenden. Stolz trägt sie ihre Zeitspuren. Genau wie ich.

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