Lyrik, Menschen
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Halte die Wunde offen

Sieben Jahre. Solange liegt Hadayatullah Hübsch jetzt auf dem Südfriedhof begraben. Er starb am 4. Januar 2011. Vier Tage später, an seinem 65. Geburtstag wurde er beerdigt. Es war kalt, die Sonne schien. Krähen saßen in den Friedhofsfichten. Eine seltsame Stimmung griff nach uns; zwischen Nähe und Fremde, muslimisch-ungewohntem Ritual und linksalternativem Ernst. Die letzte Ehre erweisen. Ihn verabschieden, das wollten wir. In die Trauerhalle zu gehen wäre uns der Familie gegenüber übergriffig vorgekommen. Wir warteten draußen. Als der Sarg herausgetragen wurde, war er inmitten einer Menschentraube geborgen, verborgen.

Junge Männer standen Spalier für die Sargträger. Es wurde gefilmt (den Bestattungsfilm kann man noch immer auf Youtube sehen). Viele trugen ihn. Den Mann, der nun in einem weißen Tuch gehüllt, im schwarzen Sarg lag. Grenzgänger über seinen Tod hinaus, einte er Muslime und säkuläre Linke beim Tragen von Weidenzweigen. Für die einen: Der Imam einer muslimischen Gemeinschaft. Der Familienvater. Für die andren: Der Slammer, Raser, Rocker des Lespults.

Der Poet. Das ist der Mann auch in meiner Erinnerung. Einer, der schreiend Zuhörer packt. In schummriger Slammer Atmo oder in einem Hinterzimmer rappend: Halte-die-Wunde-offen! In schier überspringender Präsenz dem Publikum Polit-Beat ins Hirn hackend. Hausbesetzer, Bildzeitungsleser, Arbeiter. Im Schreiben und erst recht im Sprechgesang den unsichtbaren Alltag des Irrsinn hochdrehend, bis der um sich schlagend, zuckend und grölend aus seinem Mund fuhr.


Das Video wurde von Hartmuth Malorny auf yt zur Verfügung gestellt
 
Lange her. Auf dem Friedhof wurde mir ganz leis im Kopf, die Menschen senkten die Blicke, sprachen Totengebete. Gras, Schnee, Eis. Fast nur Männer waren zu sehen. Die Muslimas blieben an der Trauerhalle. Die wenigen Frauen, die mitgingen, allesamt nicht muslimisch. Man konnte uns an zwei Händen abzählen, oder reichte eine?

Ich sah Männer, die sich auf den Rücken klopften, begrüßten, gegenseitig trösteten. Männer, die sich anlächelten, miteinander sprachen. Etwas auffallend Herzliches spürte ich unter diesen Männern. Etwas, das ich von „christlichen“ Beerdigungen bis dahin nicht kannte.

Vergleiche drängten sich auf. Sogar beim Umgang mit der Erde. Natürlich werden sonst auch auch vorher die Gräber ausgehoben. Doch die Erde für Hadayatullahs Grab war direkt daneben und ganz offen aufgehäuft. Anders als sonst kam man nicht an dieser Erde vorbei. Gelb und dunkelbraun, ocker und rötlich, mit Wurzelstücken durchsetzt atmet sie uns an. War nicht schamhaft unter einem Stück Kunstrasen verborgen wie sonst. Und alle, die da waren und zum Grab kamen, trugen etwas von diesem Berg ab. So wurde der Tote nicht erst beerdigt, nachdem alle gegangen waren und beim Leichenschmaus saßen – wie beim, „christlichen“ Begräbnis –, sondern in Echtzeit. Genug Schaufeln, genug Männer, die nachdem alle Trauernden am Gab waren, den Toten mit der restlichen Erde bedeckten.

Überraschende Erkenntnis von Entfremdung. Statt Erde streue auch ich lieber Blütenblätter auf den Sarg. Was mir irgendwie als das schönere Bild erscheint. Und doch: ist es nicht ehrlicher, Erdklumpen auf den Sarg zu werfen, während ein Pfarrer rituelle Sätze murmelt. Erde zu Erde, Staub zu Staub. Oder wer immer da ist und spricht.

Solche Reden gab es bei HH nicht. Nicht jedenfalls während des öffentlichen Ablaufs der Beerdigung. Stattdessen eine wohltuende Stille. Nicht wie so oft eine Rede, die aus einer Trauergesprächsinfo geklöppelt wird. Und am Ende sich oft so falsch anfühlt. Pat und seine Schwester haben ein solches Konstrukt letztes Jahr beim Tod ihrer Mutter abgelehnt. Befreiend. „Warum soll da jemand reden, der unsere Mutter überhaupt nicht kannte?“ Hat mich in Konsequenz meine erste Beerdigungsrede schreiben und (gemeinsam mit einem unserer Neffen) vortragen lassen. Verdammt schwierig, fühlte sich aber verdammt richtig an. Hält Wunden offen, vermag aber auch, manche zu heilen.

Auf Hübschs Beerdigung wurden wir trauereingemeindet, aufgenommen mit einem aufmunternden Lächeln. Natürlich hat man uns Nichtmuslime betrachtet, genau wie wir die Muslime betrachtet haben. So fremd dieses noch nie miterlebte Ritual. Aber sie rechneten so einfühlsam mit unserer Unsicherheit, dass wir angeleitet wurden: Jetzt kommt das Totengebet, raunten sie. Und richteten uns aus. Mit Augen, Händen und Leitmenschen ordneten sie die Gebetsreihe gen Osten. Ohne andere Hilfsmittel als dem social Beat. Viele Hände, viele Körper, aber kein Aneinanderstoßen. Nur Antippen, einander Zuwenden.

Am Grab teilte uns der Ordnende in zwei Gruppen: links Familie und Glaubensverwandte. Rechts Freunde und Bekannte. Vortreten, Abschied nehmen, mit einer Schaufel Erde zur Bestattung beitragen. Die Familie zuerst. Helfer wiesen jedem einzelnen Trauernden den Weg für den Abgang. Schoben Zweige beiseite, sorgten dafür, dass niemand mengen- oder tränenblind anderer Menschen Gräber mit Füßen trat.

Ich habe keinen ungehaltenen Blick bemerkt, keine Geste der Ablehnung. Hadayatullas Islam? Es gab mal eine Kampagne von ihm, nachdem Frankfurter Haushalte mit Bibeln beschickt worden waren. Jeder, der einen wolle, könne von ihm einen Koran habe, ließ Hübsch wissen. Ich wollte und hab einen bekommen. Ich habe auch noch einen Brief von ihm. 22 Jahre her. Seine Antwort auf meine Lyrikeinreichung. Ich möge doch, wenn mein Muttersein dies erlaube, mal vorbeischauen beim Stammtisch des Verbands der Schriftsteller. Dann könnten wir uns über meine Lyrik unterhalten. Burroughs empfahl er mir, oder Jürgen Ploog, um von ihnen zu lernen. Der Erzählfluss sei gut, aber die Stringenz fehle noch. Dieser Brief wird eine Wunde offen halten: Ich freute mich, doch ich war nie dort. Dies, das. Kein Raum, keine Kraft. Vorbei.

In meiner Erinnerung sehe ich ihn an der Bushaltestelle Lokalbahnhof stehn: roter Schal, kompakte Figur, schwarze Aktentasche. Rauchte er? Unscheinbar, ein Mann unter vielen. Das Hirn hellwach. Drinnen der Beat.
 


Auf yt veröffentlicht vom Wilhelmsburger Kunstbüro
 
 
 

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