Jahr: 2013

Wir Schnäppchenreiter

  „Fingerdick“, will ich gerade zeigen, als mich die junge Wurstverkäuferin unterbricht: „Die ist mit Schweineleber.“ Wie? Die Kalbsleberwurst? Nein, dann lieber noch vier Scheiben Leberkäse. „Mit oder ohne Leber?“ Wie? Wo ist der Unterschied? Sie kuckt professionell freundlich, nur die Augen dimmen merklich auf „Himmel ist die blöd“. Und es kommt, was kommen muss: „Na, entweder mit oder ohne Leber drin.“ Hm. Mit sieht irgendwie leberkäsiger aus – also mit. Jetzt kommt der Chef und erklärt: „Bayerischer ist ohne, hessischer mit. Weil, in Bayern ist mit Leber verboten, in Deu, äh, Hessen nicht.“ Aha. Und dass es natürlich auch Schweineleber ist. Aua. Also doch noch Schweineleber gekauft, wo ich Schwein eigentlich gar nicht esse, der alltäglich lebendig gesottenen Schweine wegen, deren Schreie mich verfolgen. Im Monat des Pferds kriegt man nun aber auch alles beantwortet (was man sich nie gefragt hat). Wurst gibt’s bei uns eher selten, denn eine Lage Salami oder Schinken liegt wochenlang – und die letzte Scheibe landet dann eh in einem Katerbauch. Aber gestern war doch mal wieder eine Runde …

Porträt: Die Theologin-Clownin

  Darf ich mal? Ich nehme eine von den Clownsnasen aus Gisela Matthiaes Requisitenkiste – und habe gleich das erste Aha-Erlebnis: so viele unterschiedliche Nasen?! Lang gezogene, kurze, runde, weniger runde… Dann die zweite verblüffende Erkenntnis, alle haben vorne unten zwei kleine Löcher. „Na klar!“, die schlanke Frau im Ringelpulli lacht, „sonst kriegt man ja keine Luft“. Ja, aber drittens stinkt diese Berufsuniform gehörig nach Gummi. Bah! Sie zuckt nur kurz mit den Augenbrauen. Clowninnenalltag, soll das wohl heißen.. Als wir sie für ein Porträt in Gelnhausen besuchen, ist das unsere erste Begegnung mit einer echten Clownin. Einer nachdenklichen dazu, die gerade noch die Erkenntnisse des letzten Wochenendes verarbeitet. Was sie so umgehauen hat? Sie atmet sich größer, schlüpft unmerklich in ihr Alter-Ego und legt los: „Oh! You look too intelectual! Could you please be a bit more of an idiot?“ Mit blitzenden Augen imitiert Gisela Matthiae den 70-jährigen Meisterclown Philippe Gaulier, an einem seiner Workshops hatte sie in Berlin teilgenommen. „Ich bin aber eine Intellektuelle!“ hätte sie am liebsten zurückgegeben. Doch schließlich war sie …

Legende: Bild 01/13

Elegant, die Zwillingsgigantin. Inbild von Aufbruch und Wachstum. Die Flanken stabilisiert von filigranen Kränen. Die wiederum recken ihre Konjunkturfühler, ihre Haussefinger immer heiter zum V-double. Bürgermeister müssen verliebt in solche Kräne sein. Vielleicht ragen die deshalb in rot und gelb zum Stadthimmel, stecken im Herzen der der City, wie das knöcherne Zauberkreuz im Herzen eines Rehs. Fast hat der jüngste Himmelbau seine Endgröße erreicht. Ein doppelter Monolith, noch im Verpuppungsstadium. Die beiden Fühler aufmerksam gereckt, sichernd das äußerste, das Ostende der Stadt. „Achtung an alle Welten“ funkt HAL. Von den Anrainern nicht unbedingt erwünscht, heftig angefeindet gar von Bank-Occupisten. Und von Schrebern, denn die wurden ihrer Gartenfrische beraubt für den EZB-eigenen Brückenschuss. Schon wird diskutiert, ob nicht auch der Hafen – einen Katzensprung weiter – ob dem nicht auch ein Hauch Luxus gut anstünde? Appartements für Börsenkenner, so was. Die Eurozone Ost wird sicher noch weiter aufgemotzt. Der Straßenzug, an der das summende Bankhaus gerade andockt, ist längst beim Upsizing. Überragend eben, die neuen Twins. Fast ein wenig Furcht einflößend hier, wo sie nicht wie …

OoH: Identität-to-go

Zur Qualitätssicherung zeichnen wir vereinzelt Gespräche auf; wenn Sie damit einverstanden sind, antworten Sie bitte mit Ja. Nein. Vielen Dank. Die Wartezeit beträgt etwa 10 Minuten. Während ich meine über die letzten Wochen gesammelte To-do-Liste abarbeite, und staune, wie glatt die geschulten oder automatischen Stimmen durch meine Ohrschnecke trudeln, rieselt vor meinem inneren Auge plötzlich ein lila Weihnachtsbaum. OoH, was wollte ich sagen? Bitte halten Sie Ihre Kundennummer bereit! Entschuldigung, ich habe Sie nicht verstanden, bitte wiederholen Sie Ihr Anliegen. Rechnung. Einen Augenblick bitte… Bis letzte Woche stand er im Schaufenster – was gab es da eigentlich früher? Blumen? Ein Baum wie ein Pudel. Klappbar, aus lila Lametta und Plastik. Er hat mich… Hallo! Sie sind mit dem automatischen Anrufsystem verbunden. Wünschen Sie eine Beratung? Drücken Sie bitte die Eins, geht es um Ihre Bestellung? die Drei; für alles Andere drücken Sie bitte die Fünf – for Englisch press two. .. Vielen Dank. Bitte geben Sie nun Ihre Kunden-PIN ein. Piep, piep, piep, piep, piep. Einen Augenblick bitte… …angehalten. Ich sah genauer hin. Weiß. Fontänenartig …

Das Buch: Vom Schlafen und Verschwinden

Zeichen, Zettelsammlungen, ein flaches Z in der Luft – die ersten zwölf Seiten sind geheimnisvoll und verwunschen. Wie zufällig hingeworfener Sand, eine Häufung von Andeutungen und Worten, deren Inhalt man erst später richtig verstehen wird. „Alles ist voller Zeichen“ – lautet der erste Satz, es endet damit, dass alle Zeichen verschwinden. Dazwischen entfaltet und verwebt die Autorin die Geschichte zweier Frauen, Ellen und Marthe. Sie erzählt von Schlaf- und Rastlosigkeit, von Erinnern und Vergessen, und von vielfältigen Variationen, sich zu entziehen. Die Hauptprotagonistin und Icherzählerin ist Dr. Ellen Feld. Allein erziehende Mutter und Schlafforscherin. In einer einzigen, 280-seitigen, schlaflosen Nacht reflektiert diese ihr Leben. Wie sie sich in .. der Vorhölle des Todes? des Verschwindens? auf jeden Fall .. zermürbender Schlaflosigkeit wälzt – das ist der Rahmen. Währenddessen trinkt sie ab und an Wasser, betrachtet die schlafende Tochter, spürt die Vibrationen der Hamburger Untergrundbahn, registriert das Fortschreiten der Zeit über die Stadtgeräusche sowie die Schattenlamellen der Jalousie, kommt immer wieder darauf zurück, dass sie unbedingt ihr Buch über die Schlaflosigkeit beenden muss – spinnt die …