Autor: Sylvia

Halte die Wunde offen

Sieben Jahre. Solange liegt Hadayatullah Hübsch jetzt auf dem Südfriedhof begraben. Er starb am 4. Januar 2011. Vier Tage später, an seinem 65. Geburtstag wurde er beerdigt. Es war kalt, die Sonne schien. Krähen saßen in den Friedhofsfichten. Eine seltsame Stimmung griff nach uns; zwischen Nähe und Fremde, muslimisch-ungewohntem Ritual und linksalternativem Ernst. Die letzte Ehre erweisen. Ihn verabschieden, das wollten wir. In die Trauerhalle zu gehen wäre uns der Familie gegenüber übergriffig vorgekommen. Wir warteten draußen. Als der Sarg herausgetragen wurde, war er inmitten einer Menschentraube geborgen, verborgen. Junge Männer standen Spalier für die Sargträger. Es wurde gefilmt (den Bestattungsfilm kann man noch immer auf Youtube sehen). Viele trugen ihn. Den Mann, der nun in einem weißen Tuch gehüllt, im schwarzen Sarg lag. Grenzgänger über seinen Tod hinaus, einte er Muslime und säkuläre Linke beim Tragen von Weidenzweigen. Für die einen: Der Imam einer muslimischen Gemeinschaft. Der Familienvater. Für die andren: Der Slammer, Raser, Rocker des Lespults. Der Poet. Das ist der Mann auch in meiner Erinnerung. Einer, der schreiend Zuhörer packt. In schummriger …

Bärlauch, first flush!

  Was hier bisschen aussieht wie Osterglocken oder Traubenhyazinthen im Schaft – ist Bärlauch im Anschlag. Bei um die zehn Grad – klar, dass der Frühling schon rausspitzt. Sogar die ersten Kraniche wurden bereits gesichtet – und auch Frösche haben sich in Hessen schon blicken lassen. In unserem Stadtwald hat Friederike allerdings ordentlich Laub gerecht. Hoffentlich kommt im Februar kein bitterer Fost, dann stehn die Frühaufsteher wieder kalt da… Aber wir sicher nicht ohne Bärlauch. Ob Mitte Februar oder Ende März, diese Zwiebel ist robust. Ich warte schon auf Leckereien wie: diese.      

„Wo wart ihr im Krieg?“ – Ein Nachruf, ein Porträt: mein Opa

Wie er am Grab seines Vaters stand – daran konnte sich mein Großvater noch gut erinnern. Er war fünf, sein Vater ist nur 33 Jahre alt geworden. Tuberkulose. Wir hörten diesen Teil meiner Familiengeschichte zum ersten Mal, als wir meinen Großvater für unser Familienchronik-Projekt besuchten. Im Gegensatz zu anderen Geschehnissen sei ihm diese Erinnerung noch sehr präsent, sagte er uns vor 14 Jahren. Damals hatten wir noch nicht an so vielen Gräbern gestanden wie heute. Seine damalige Frau Angelika ist tot, mein Vater, Pats Großtante Maria, seine Tante, seine Mutter… Vaterloses Kind. Wie mag das wohl für einen kleinen Jungen wie ihn 1920 gewesen sein? Danach fragten wir erstmal nicht, wir ließen ihn erzählen. Ich erinnere ihn wie auf dem Foto, das Pat gemacht hat: die Augen klein geworden, 88 Jahre Licht blinzelnd, der hoch erhobenen Kopf – und sein zurückhaltendes Lächeln. Er war ein großer Mann. Ich hatte ihn gemocht. Als ich erfuhr, wie brutal er als junger Vater meine Mutter geschlagen und gedemütigt hatte, war ich entsetzt. Es war nicht zur Deckung zu …

Blattkritik – Selfie-Kick!

  Mein angepisstes Gegenüber liest mir aus der SZ am Wochenende (Buch Zwei vor zwei Wochen) vor: „Die ersten Apparate für den Hausgebrauch… mussten mit kurzen aber sehr teuren Filmen bespannt werden, die man anschließend zum Drogisten trug.“ Was? Achso, es geht um analoge Fotografie. „Bespannt.“ Putzig. Der Mann hat also noch nie einen Film eingelegt. Mir kommt der eine oder andere selbst gemachte Fehler in den Sinn, daher nehme ich den Schreiber Hannes Vollmuth in Schutz – und ernte erst vernichtendes Augenrollen, dann die Aufhänger für den Artikel gesteckt: Magnum (die Agentur!) hat Geburtstag und Josef Koudelka (der Magnum-Fotograf!) hatte eine Ausstellung. Okay. Das schreit eigentlich nach einem, der Ahnung hat. Mein Mann, sonst kein Freund der Vorleserei, zwickt sich noch einen Satz raus: „Dann erstand (Koudelka) eine zweiäugige Spiegelreflexkamera, Sucher oben, von dort schaute man in den Apparat.“ Normalerweise hätte Pat spätestens jetzt den Artikel weggelegt, aber wenn es in unserer Abo-Zeitung schon mal um Fotografie geht… Und zwar über drei Seiten, vollgepackt mit Magnumfotos. Und auch wenn sie irgendwie konzeptlos zusammengeschustert wirken: …

Gelesen: Restlaufzeit und Sterblich sein

Kein Zufall, dass „Sterblichsein“ von Atul Gawande und „Restlaufzeit“ von Hajo Schumacher gerade jetzt bei mir aufeinandertreffen – beide sind ein Plädoyer für Selbstbestimmtheit und würdevolles Leben im Alter. Themen, die uns durch eigene Erfahrungen gerade sehr stark berühren. Das Buch Sterblich sein habe ich vor zwei Jahren im Vorfeld der Buchmesse aus der Vorankündigung des Fischer-Verlags gepickt und mir als Rezensionsexemplar schicken lassen. Restlaufzeit wurde mir etwa zur selben Zeit von einer Redakteurin empfohlen. Gekauft habe ich es vor einigen Wochen. Kommt mir vor, als wäre das Jahre her. Pats Mutter lag im Sterben. Wir haben sie erst vor kurzem beerdigt. Die zweite aus unserer nahen Verwandtschaft in diesem Jahr. Und wir begleiten eine dritte, die so schwer krank ist, dass wir im Februar glaubten, sie würde den Sommer nicht erleben. Solche Erfahrungen verändern Perspektiven und werfen Fragen auf: Wie viel muss man machen und was muss man lassen, wann loslassen? Wo sind die Grenzpunkte der pflegerischen Für- und der medizinischen Versorge? An diesen Punkten wird es ja erst anspannend und aufreibend. Wir brauchen …