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Kneippen im Mai

Oh, die Stieltöpfe! Ausgesetzt am Straßenrand. Aus Kupfer! Die vergesse ich sicher nicht. Zwei auch noch. Alt, guss-schwer und sooo schön. Haben will! Ich halte sie Pat hin. Können wir? Die mitnehmen? (Habenwill!!) Noch sind wir in Aachen, unsere Reise geht gerade los. Pat guckt nur. Nach Hause schicken? “Nein” sagt er nicht, aber auch nicht “Ja”. Okay. Hat ja recht. Post suchen, verpacken… Die wiegen mindestens zwei Kilo. Hachnee. Ich stell sie wieder hin. Zum Mitnehmen auf eine 18-tägige Radreise sind sie wirklich nicht geeignet. Los-lassen. (Auch so schon schwer genug mein Rad mit Kamera, Tele, Schlafsack, Klamotten. Verpflegung – und was wir sonst zum Outdoorleben brauchen, wenn wettermäßig alles zwischen kühl und heiß und nass angesagt ist.)Dafür geht eine Erdbeergrütze vom Straßenrandbüdchen mit.

Trotz angesagten Regen haben wir Sonnenglück im Limburger Land. Herrlich unbemerkt fahren wir über die belgische Grenze, plötzlich reden sie französisch – so wird das die ganze Reise über sein, niederländisch, flämisch, wallonisch, französisch oder deutsch. Unsere Maas-Rhein-Tour führt uns immer an der Grenze lang. Wie einfach das hier ist. Man sieht die Grenze nicht, und weiß doch, dass das hier mal hart umkämpft war. Gar nicht so lange her. Im Jetzt wird man hier weder verhaftet noch erschossen, kann einfach Grenzradeln. Wird überall willkommen geheißen. Sind aber auch keine Flüchtlinge.

Eigentlich wollten wir nach 40 Jahren die Bretagne wieder sehen, und mit dem Rad neu erkunden. Aber nein: die Kombi Bahn&Rad erwies sich als dermaßen extraordinäres Vorhaben, dass wir es vom Plan gestrichen haben. (Zu rechnen wären 500 € allein fürs Bahnticket gewesen, plus insgesamt vier Tage An- und Abreise, also Essen gehen, Übernachtung…). Sehr schade. Frankreich mag ne coole Show können, aber keine Radler wie uns willkommen heißen. Merde alors. Aber was nun? Maas-Dünen, lautete mein Vorschlag. Pat baute uns aus der Idee ne sagenhafte Maas-Rhein-Tour. Merci beaucoup.

Los gings mit „Zug fällt aus“. Ja, genau: Der neue Klassiker. Ein gebuchter ICE. Hmpf. Nächste Fahrtmöglichkeit stand angeschrieben: In 8 Minuten. Aber man braucht ja ne Fahrrad-Reservierung. Ahrgh! Zum Schalter gestürmt, erfolglos versucht, mich vorzudrängeln und mir sagen lassen, „So schnell geht das eh nicht.“ Wieder raus zum wartenden Pat, er ganz ruhig: „Zug hat Verspätung.“ Ich mich wieder angestellt, nette DB-Frau erwischt, die in Minutenschnelle die Umbuchung erledigt. Uff, kann losgehn. Im Zug, nach bisschen Hin und Her, im Viererabteil gegenüber vier Mädels. Aufgedreht und voller Energie. Nine im Fußballtrikot, packt einen Karton aus, öffnet ihn und enthüllt eine, nein ihre Geburtstagstorte. „Macht meine Mama immer für mich“, sagt sie – mit strahlendem Gesicht wie man es nur als Sixteenie haben kann. Sie säbelt Stücke für ihren Freundinnen ab, ich schau gespannt rüber, was der Kuchen so enthält, sieht supersüß aus mit Schokoüberzug und Schokopralinenkugeln obendrauf. Pat rollt die Augen, schon beim Hinschauen sagt sein Magen Aua. „Wollen Sie auch eins?“ Ich schon, und schon liegt ein Stück Schokobombe vor mir. Wenn das kein Glück bringt.

Mit viel Gekicher und Gequatsche wird Nine gefeiert, dann zieht sie los mit ihrem Kuchenkarton und verteilt routiniert den Rest an die anderen Zuggäste. Sogar der Mann, der permanent telefoniert – offenhörbar mit Oldtimern handelt, und aussieht wie ein alternder Luxuspunk, mit Glitzer am Gürtel und Siegelring – kriegt ein Stück. Bei dem saßen wir zuerst… „Ja, den kenne ich, der ist grün. Wer kauft schon einen grünen Rolls? Steht in Stuttgart. Sind schon um 30.000 runtergegangen. Aber der silberne Porsche in Monaco, da kannste dich drin spiegeln!“ Der Wahnsinn. In einem fort. Hab ich nicht ausgehalten. Nine bekommt von mir eine feine Schokolade als Dankeschön und von einem anderen Beglückten ein Mini-Taschenmesser zum Geburtstag. Was sie sich freut! Der Mutter mein Herz.

Aachen und später Nijmegen gefallen uns sehr gut. Müsste man nochmal hin, auf Stadtbesuch. Doch erstmal Limburg. Nach drei Tagen wissen wir: Belgier sind Heckenschneidemeister. Große Liebhaber geschorenen Buchses (wehe, der Zünsler kommt). Auch Taschentuchbäumchen sind schwer in Mode, winken aus jedem Vorgartenkies. Schaustücke der Reichen, dazu immer wieder Schilder, die Beauty andienen, Massage oder Glitzerkram. Hausfrauenland. Da würgt meine innere Eva.

Aber die Heide! Mechelse Heide im Nationalpark Hoge Kempen – traumhaft. Größter Nationalpark Belgiens (gibt’s noch einen in dem kleinen Autofahrerland?) und allein die Reise wert. Im Regen, der uns nicht von der ersten Erkundungstour abhält – und noch schöner in der Sonne am nächsten Tag, wo wir uns dann ja „schon auskennen“. Grasmücken schwatzen um die Wette, Baumpieper flöten, Heidelerchen trillern, Fingerhut und Ginster setzen Akzente. Dahinter Birken, Wasser, Magerwiese bis zum Horizont.

Labsal und Augenweide. Fürs Ohrenfutter sorgen die Frösche während dieser Reise. Immer und überall. Reichlich Wasser, reichlich Teichfrösche, die knurren und meckern und quarrknarzen. Und so geht‘s: Erst fängt einer an: Rrrr? Die Nachbarn stimmen ein Rrrrr! Rrrroahhrrrkk – Rrrrr dann reihum in Seen und Wiesenseenpfützen. Andante, Leute, Crescendo: Los quarrt‘s. Hoarrrrkrrrrzzz, Allegro! Jetzt alle KrRRRoahhrrrr!! Uuund Psst. Ruhepause. In den Niederlanden dann auch Teichrohrjazz. Die braungrauen Sänger jammten an allen Kanälen. Wie ich das liebe! Und natürlich Pats feine Touren, die uns mittendurch führen.

Im Regen haben wir den Park für uns. Auch nicht schlecht. Durchs Himmelstropfen gefahren den ganzen Tag. Durch Perlenvorhänge aus Regen und Schauern und Pfützen und rinnendem Nass. Wie Kneippen. Zurück auf dem Campingplatz entern wir eine Treckerhütte. Zum Glück niemand da, wir können uns breit machen. Klamotten trocknen, im Sessel fläzen und kochen unterm Terrassendach. Das Zelt haben wir neben dem See aufgebaut, bald wird es im See stehen. Werden noch Kaulquappen, wenn‘s so weiter geht. Meine pitschnassen Klamotten hängen von Tür zu Tür im Innenhof des Sanitärgebäudes. Seltsamer Campingplatz. Seelenlos. Mit seinem Automaten am Eingang – und Zelter gibt’s außer uns keine. Die andern alle in Hütten oder Wohnmobilen. Kennt man ja. Trotzdem nicht schön. Und dann kommen sie, führen ihre Hunde durchs Zelt, „Der macht nix“, Haha. Und beglotzen uns. Sind wir Zoo oder was? Restaurant geschlossen. Empfang geschlossen. Kein Aufenthaltsort für Zelter, dafür eine Karte für zwei zum Sanitärgebäude. Daumen down.

Am dritten Tag nochmal Mechelse Heide zum Abschied und weiter. Folgen gerade noch einem schönen Waldweg, als wir plötzlich wir vor einer Großbaustelle stehn. Und staunen. Über die Menschheit. Im Allgemeinen und hier im Besondern. Mitten im Naturschutzgebiet entsteht eine Trockenübung-Skischanze, als käme Olympia. Und rundherum ein MTB-Trail. Und natürlich ein Parkplatz. Sportplätze aller Art sind da schon. Auch MTB-Trail und Schießplatz. Hula-Hula rund um die Uhr und für alle. Sind wir raus.

Unser nächstes Zeltzuhause in den Niederlanden: „Den Buizerd“. Zum Bussard. Zwei alte Naturcamper führen es. So herzlich, ich könnte heulen vor Glück. Das absolute Gegenstück zum Zooplatz Lanaken. Luxus pur: Kaffeemaschine, Kaffee, Tee, Wasserkocher. Zum Büro und Aufenthaltsraum ausgebauter Bauwagen – und nix wird geklaut, wie sie beim anderen Platz gesagt haben, „alles wird geklaut“. Eine Frage der Führung, sagen wir. Paar Wohnwagenleute sind da, und jeden Tag kommen Radler und Wanderer für eine Nacht. Und dürfen einen schönen Platz auf der großen Wiese aussuchen. Wir praktizieren erprobtes Anker-Radeln: Bleiben zwei bis drei Nächte und erkunden dann die Umgebung mit leichtem Gepäck. Hier, von Geijsteren aus, die Maasdünen oder Arcen, das schöne Örtchen, mit dem Super-Café. Wo wir zum ersten Mal auch Reiseradler aus den USA treffen. Woher? „USA“, sie grinsen. Und sind begeistert von unserer Reiseradler-Ausstattung und von Europa (sie kommen gerade aus Frankreich). Sie so: „Ihr habt hier Radwege! Rechts und links der Straße!“ Sie kanns kaum fassen – „Bei uns gibt es das nicht.“ Das Salz des Reisens. Menschen treffen, Geschichten tauschen.

Zum Waldcamping in Groesbeek müssen wir erst den Wolfsberg hoch. Die Gegend hier heißt nicht umsonst “Berg en Dal” – Berg und Tal. Dort fühle ich mich wie auf dem Waldplatz in Schweden, nur dass wir hier nicht wild zelten. Erster Tag aber mit genauso nervigem Umfeld. It’s Wochenende, stupid. Was die Umwelt so ertragen muss. Wir dann gleich morgens los: Cappu und Croissa bei Bäcker Bart. Und Hinterrad aufpumpen im lokalen Fahrradladen. Leider sind sie da nicht nett. Hätten wir verdient. Fucking Aerotan. Wegen dem fahr ich die Tage wie auf Eiern. Aerowas? Aerotan. Mein extraneuer Urlaubsschlauch. 800 g weniger als der mit Gummi. Hat Pat mir montiert, damit ich‘s leichter habe. War dann aber eher unser Alptraum. Das wiederholte Szenario ging so: Es regnete gerade nett, und meinem Hinterrad ging die Luft aus. Glaubt ja niemand, der es nicht kennt, wie einen so ein Fahrrad-Mantel fertig machen kann. Bis man den runtergewürgt hat – zu zweit! Und dann wieder drauf. Das letzte Stück: HHRRRNGPFFPFF! Man kann sich nicht vorstellen, es jemals aus der Felge zu kriegen. Und umgekehrt wieder rein. Abgefahrener Shit. Alle vier Aeros im Müll jetzt. Halten einfach das Gepäck einer Reise nicht. Der Druck stanzt das in Kunststoff eingefasste Ventil raus. 100 Euro für die Tonne, und Schwalbe sagt noch nicht mal was dazu. Danke auch. Jetzt wieder konventionell unterwegs, auf Gummi.

Wo ich meinen jetzigen Mantel bekommen habe – wird eine andere Geschichte werden. Wie wir direkt vom Feld weg von der nettesten Bäuerin der Welt Spinat geschenkt bekommen haben (für zwei Kekse als Dank), wird gerade Artikel und ist eine der schönen Randerinnerungen. Wie die anderen Plätze waren, schreib ich auch noch. Und wie megalangweilig das Kaff, das ich unbedingt sehen wollte, und dann so krass deutsch war – wie hieß es noch? Oder der ukrainische Panzer am Museum für Frieden (?!) und die kanadischen Gräber aus Worldwar II. Jedes mit einem eigenen Erinnerungsspruch, und so schön angelegt… Weißt du noch? Und die vielen anderen Momente, die nicht ganz so eindrücklich waren und jetzt am Boden des Hirns bei all den anderen Reiseeindrücken zur Essenz simmern. Ein nicht greifbarer, synästhetischer Mix aus Duft, Farbe, Geräuschen. So schiebt sich beim Erinnern und Erzählen eins übers andere – und mancher Weg sieht dann sogar im Jetzt einem anderen in einer anderen Zeit, anderen Gegend, anderen Land gar, so verblüffend ähnlich, dass man sich verliert und verläuft. Wo bin ich? Bei uns. Zeitenwandern. Zeltwandern. Bei mir.

 

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