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Gelesen: Dschihad – made in Europe

Was treibt eine ganze Generation junger Menschen, die in westeuropäischen Ländern aufgewachsen sind, in die Fänge radikal-islamischer Scharlatane? Warum werden vermeintlich sanfte Jungs zu Selbstmordattentätern? Weshalb greifen Mädchen, die eben noch im Tattoo-Studio waren, zum Ganzkörperschleier? Zwei aktuelle Veröffentlichungen widmen sich diesem Phänomen. Die Autorin Petra Ramsauer nennt sie „Dschihad Generation“, der Autor Ahmad Mansour „Generation Allah“. In beiden Büchern werden Ausgrenzung und Entfremdung als Hauptursache der Radikalisierung skizziert. Der „Islamische Staat“ IS ziehe sie als heilbringende Parallelwelt an, die verspricht, woran es den Jugendlichen mangelt: Geborgenheit, Anerkennung, Sinn, Gemeinschaft und Identität. Beide Bücher sind klug geschrieben und liefern Hintergrundinformationen für die überfällige Debatte über dieses Thema. Dabei sind die Einblicke, die sie geben, sowie die Antworten, die sie finden, durchaus verschieden.

ramsauer_coverAls Nahost-Reporterin recherchiert Petra Ramsauer kenntnisreich die Fakten und setzt die Puzzleteile des IS als bedrohliches Szenario zusammen. Zu Beginn des Buchs gesteht sie, dass sie aus persönlicher Betroffenheit schreibt: Anlass des Buchs sei der Mord an ihrem Kollegen Jim Foley gewesen – der vor laufender Kamera von einem jungen Mann enthauptet worden ist. Der Mörder, der unter dem Decknamen „Jihadi John“ bekannt wurde, ist in London aufgewachsen. Wie können europäische Demokratien Dschihadisten wie ihn hervorbringen? Um das zu verstehen hat sie mit Müttern gesprochen, die krank vor Sorge um ihre Kinder sind, die sich von ihnen abwenden – sowie mit Aussteigern, die von ihren Träumen erzählen und wie sie an der vorgefundenen Realität verzweifelten. Um all das im politischen oder sozio-psychologischen Kontext einzuordnen, lässt die Autorin Extremismus-Experten, Psychologen und auch einen Militär in Syrien zu Wort kommen.

Gefängnisse, Schulen und Fitnessstudios ortet sie als neuralgische Punkte, an denen die Menschenfischer des IS, die Salafisten, agieren. Sie bieten haltlosen Jugendlichen, was ihnen fehlt: Gemeinschaft, einen sicheren Ort und eine Aufgabe (die Werbetrommel rühren). Dann werden sie auf radikalmuslimischen Kurs gebracht. Die Bindung zu den Eltern wird gekappt, sie werden kontrolliert, unter Druck gesetzt. Die Parallelen zu rechtsextremen, faschistischen Organisationen sind überdeutlich. „Anders als al-Kaida, die sich als elitäre Vorhut empfand, will der IS Massenbewegung sein“, fasst Ramsauer zusammen. Die Faszination des Dschihad als Protestkultur sei größer, als gemeinhin vermutet. Junge Männer inszenierten sich als Helden, handelten aber als „sexbesessene, mordlüsterne und narzisstische Cowboys“.

Und am grausamsten jene, die in den demokratischen Ländern Europas aufgewachsen sind. Ein Kapitel handelt von der Faszination, die der IS auf junge Frauen ausübt. Ein englischer Extremismus-Experte wird mit den Worten zitiert: „Der Punk des 21. Jahrhunderts trägt eine Niqab“ (den Vollschleier). Mit ihrem Verhalten unterstützen diese Frauen Gesetze, die jungen Männern erlauben minderjährige Gefangene zu vergewaltigen. Diese würden von den Radikalmusliminnen wie Ware verwaltet, konstatiert die Autorin. Protestbewegung? Pop-Dschihad? Punk? Plakative Worte, die bei jungen Migranten, die sich heimatlos und ausgegrenzt fühlen, womöglich genau das befördern, was Petra Ramsauer eigentlich nicht möchte: dem Heldenkult Nahrung bieten. Bei allen anderen lösen die Begriffe ein umso größeres Nichtbegreifen aus: Wie kann man nur sein freies Leben gegen Bevormundung und Unterdrückung einzutauschen?

u1_978-3-10-002446-6Auch der Psychologe Ahmad Mansour beschreibt eine krasse Unterschätzung des Problems. Doch anders als Ramsauer spricht er in seinem Alltag mit gefährdeten Jugendlichen. Sein Plus als Muslim: sie vertrauen ihm. Er erlebe dann wie sie lebhaft über Dinge reden, die ihnen auf der Seele brennen. Und schließt aus den Reaktionen, dass sie nicht gewohnt sind, dass man ihnen Interesse entgegenbringt. Diese Ignoranz der Erwachsenen sei „das Versagen unserer Gesellschaft“. Gerade hat der Autor für seine Arbeit den Moses-Mendelssohn-Preis zur „Förderung der Toleranz” erhalten. Mansour, der als Palästinenser selbst angeworben wurde und den Kipp-Punkt zwischen Religion und Radikalisierung genau kennt, warnt vor der Wir-ihr-Haltung: „Wer etwas verändern will, muss diese Jugendlichen dazuzählen.“

Entfremdung sei das Resultat von Erfahrungen. Und der erste Schritt zur Radikalisierung. Ein weiterer wesentlicher Wegbereiter sei Angst. Wie früher die Katholiken schürten muslimische Eltern heute Angst, um Gehorsam zu erzwingen und tabuisierten alles Körperliche bis hin zur einfachen Umarmung. Die Unterdrückung von Sexualität ist in seinen Augen der eigentliche „Schlüssel zur Radikalisierung“. Familien seien oft streng patriarchalisch ausgerichtet. Väter von gefährdeten Jugendlichen agierten meist entweder zu stark und kontrollierend oder seien zu schwach und abwesend. Angst und Unterdrückung aber verhindern die Entwicklung einer selbstbewussten Identität. Mansour kennt selbst die verbalen Androhungen von Höllenqualen. Sie würden sich gerade bei Kindern einbrennen, weil sie zu quälenden Alptraum-Bildern werden – etwa „Haare die zu Schlangen werden.“

Um Jugendliche vor Radikalisierung zu bewahren, rufen Ramsauer und Mansour die Politik und die demokratischen Gesellschaften dringend zum Handeln auf. Er wird dabei jedoch als Praktiker konkreter als sie: zehn Handlungsempfehlungen gibt er der Leserschaft mit. Als politisches Signal fordert er die Einrichtung eines Amts für „Prävention und Bekämpfung ideologischer Radikalisierung“. Unter den weiteren Punkten sind etwa die Forderung nach der “Etablierung einer Mäeutik”, einer Debattenkultur in Schule und Universität; einer Fortbildung von Lehrenden, die ihnen bessere Werkzeuge an die Hand gibt als die nutzlosen Phrasen von mehr Wertschätzung und Ermutigung; außerdem Elternarbeit, um muslimische Eltern in die Gesellschaft einzubinden. Und nicht zuletzt fordert er die Muslime zur Selbstreflexion auf. Eine Reform des Islam sei dringend erforderlich.

Abgesehen von den direkt an Muslime gerichteten Punkten, lesen sich diese Leitlinien wie Ausrisse aus einem reformpädagogischen Konzept. Kritisches Denken und Debattieren lernen, die Einbindung von Eltern und die verbindliche Anwesenheit von Erwachsenen – alles Aspekte, die allen Jugendlichen auf dem Weg des Erwachsenwerdens zugutekämen. Man könnte es auch Kooperatives Lernen nennen. Beide Bücher rütteln auf und helfen verstehen. Ahmad Mansour ist dabei sehr praxisorientiert. Setzt früher an und geht dann einen Schritt weiter als Petra Ramsauer.

Ahmad Mansour: Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2015, 256 Seiten, 19,99 Euro.

Petra Ramsauer: Die Dschihad Generation. Wie der apokalyptische Kult des islamischen Staats Europa bedroht.
Verlagsgruppe Styria, Wien/Graz/Klagenfurt 2015, 208 Seiten, 24,90 Euro

Die Rezension habe ich für Psychologie heute geschrieben, sie ist gerade erschienen (Heft 04/16).

 
 

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