Jetzt wachen sie auf. Viertel vor sechs, wenn der Flieger mitten durchs Schlafzimmer fliegt. Jetzt, wo der Wald abgeholzt, die Nordwest-Landebahn Rhein-Main gebaut ist, treffen sie sich zur Menschenkette in Offenbach mit viertausend Leuten (fünf Wochen vor der Eröffnung), gehen sie in Mainz zu zehntausend auf die Straße (zwei Tage nach der Eröffnung) und sind empört. Verdammt spät. Wo waren diese ganzen Empörten, als die Bürgerinitiativen mit drei bis vierhundert, wenn’s hoch kam 1500 Leuten vorm Flughafen Rabatz machten, im Wald demonstrierten und in Wiesbaden ihr Recht auf Lebensqualität einforderten. Wo? Während sich die Befürworter der Lebensqualität einer Region abgearbeitet haben, und die hessische Wirtschaft und Politik vorsichtig um die Ecke lunste, ob da auch wirklich nicht mehr passiert. Während die Mediation von Anfang an nur das eine Ziel hatte: dafür zu sorgen, dass die Landebahn ohne viel Bürgerkrach gebaut werden kann. Während Exministerpräsident Koch mit dem Nachtflugverbot lockte, das für die Lufthansa von Anfang an indiskutabel war.
Vorausschauend Denken und sich für alles interessieren sollen Kinder und Jugendliche immer. Und die Erwachsenen? Beispiel Offenbach. Seit Jahrzehnten kämpft eine Offenbacher Bürgerinitiative gegen Fluglärm. Aber als ich dort vor dem letzten Ausbau in einem der verlärmtesten Stadtteile, in Lauterborn Leute fragte, was sie zur Landebahn meinten – fragten die zurück: “Ach, die neue Landebahn, ist die nicht schon gebaut?”
Jetzt ist sie das. Am Tag vier nach der Eröffnung, und nach dem Drehen auf Westwind haben auch die Frankfurt-Sachsenhäuser und -Niederräder gemerkt, dass die Airlines nicht mit Besen und Staubsaugern fliegen. „So laut haben wir uns das nicht vorgestellt“ maulen sie jetzt in ihrer Lokalzeitung. Vielleicht haben sie immer nur gern glauben wollen, was Fraport und Lufthansa in den letzten Jahren verkündeten: die neuen Flugzeuge sind leise, leiser leiserer – und nicht bedacht, dass mehr Flugzeuge einfach mehr Lärm bedeuten. Außerdem ist der meiste Lärm ja bestimmt anderswo. Und überhaupt. Die werden das schon richtig machen. Der Standort muss geschützt werden, was kümmert mich der Hirschkäfer.
Vorgestern wurde vor der Lufthansa protestiert. Vom Bodenpersonal. Wegen des Nachtflugverbots. „Fracht braucht die Nacht“, riefen sie und dass es egoistisch sei, nur an sich und seine Nachtruhe zudenken. Arbeitsplätze seien in Gefahr. Noch habe ich nicht ganz verstanden, warum. 17 Flüge sind wegen des Verbots durch das hessische Verwaltungsgericht gestrichen worden. 11 davon betreffen Lufthansa Cargo, die Aktie sank sofort um 2 Prozent. Und jetzt kann man sich streiten, ob das lösbar ist oder nicht, welche Lösungen Sinn machen oder nicht. Im Forum von “Airliners” etwa gibt es die Frage, warum nicht ebenso vehement gegen LKW- und Autobahn-Lärm geklagt wird. Manche werfen vor allem jenen Heuchelei vor, die es über ihrem Haus ruhig haben wollen, aber gerne nach Mallorca fliegen oder nach Übersee. Wo die Ferienfliger dann womöglich nachts über die Slums brettern, dass es den Bewohnern das Wellblechdach weghaut.
Das einzig wahre Gegenargument aber heißt “Arbeitsplätze”. Nach der Frankfurter Rundschau sind “Tausend” in Gefahr, nach der FAZ „Tausende“. Beide Male ist der Betriebsat die Zitatquelle. Es hängt am “e”. Aber Tausend oder Tausendplus – Warum genau, ob und wie viel genau an Arbeit wegfällt, wird nirgendwo erklärt. Tatsache aber bleibt, dass der Planfeststellungsbeschluss, die Bauerlaubnis für die Landebahn, nur im Paket mit der Zusage erteilt wurde, dass auf Nachtflüge verzichtet wird. Dass Lufthansa Cargo das nie gut fand, war immer klar. Aber: keine sinnvollen Alternativen zu entwickeln und den Pakt mit der regionalen Bevölkerung – die nicht gegen den Flughafen an sich ist, aber gegen ein immer Mehr an Lärm und Belastung – schon von vornherein aufzukündigen und darauf zu rechnen, dass man sich eh nicht an Beschlüsse nicht halten muss? Verständlich also, dass da jetzt welche aufwachen.
Wenn der erste Flieger des Tages um Viertel vor sechs durch mein Schlafzimmer fliegt, rege ich mich aber nicht auf. Mein Gewissen ist ruhig, weil ich vor fünfzehn Jahren zu denen gehört haben, die auf Einladung der Förster im Wald waren, und die vor dem Flughafen deutlich gesagt haben: So ist es nicht richtig. Mein Hirn ist ruhig, weil ich mir das durchaus so laut vorgestellt habe. Zum Einen, weil wir seit Wochen den kleinen Testflieger beobachten, der parallel zum Landeanflug der anderen herumkurvte, nur leider näher bei uns. Zum Anderen, weil ich weiß: Ob ein Flugzeug laut oder leise landet, bestimmt nicht der Flughafen, sondern Wetter, Pilot und Flugzeugtyp. Ostwind? Lauter (immer schon). Westwind? Laut (seit der Eröffnung). Landeklappen früher ausgefahren? Etwas lauter als die andere Variante. Und schließlich: schickt nicht jede Airline den leisesten Typ bei uns vorbei.
Vor allem aber rege ich mich nicht auf, damit mein Herz ruhig bleibt. Es gibt nämlich Studien zur Lärmbelastung, die zeigen, dass Flughafenausbaugegner höhere Stresswerte haben, als Nicht-Flughafenausbaugegner. Wenn die Gegner ein Flugzeug auch nur von weit weg säuseln hören, rast der Puls, steigen die Cortisolwerte, die Befürworter dagegen hören nur „Wirtschaft“, „Wachstum“, „Wohlstand“, und schlafen sanft.
Genau so ist der wahre Ablauf der letzten 12 Jahre gewesen.
Ist es jetzt zu spät, oder läßt sich die Landebahn Nordwest mit
Volkswiderstand noch einer anderen Verwendung zuführen z.B.
Umbau zu einem Terminal 3 mit Skytrainverbindung zu Terminal
1 und 2, damit auch hier Fluggäste ein- und ausgecheckt werden
können. Der jetzige Zustand ist jedenfalls unerträglich.
Roland Koch als hartnäckiger Unterstützer dieses Ausbaus und auch
Petra Roth in seinem Schlepptau machen sich aus dem Staub, um
des Bürgers Unmut nicht zu spüren. Sie wissen sicher, was sie den
Menschen angetan haben. Es ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Hallo Renè Christian,
zu spät oder noch Luft, etwa im Gerichtssaal – ja das ist wirklich jetzt die Frage. Ich finde es zwar unglaublich, dass jetzt plötzlich montags bis zu 2000 Leute Zeit haben im Flugafen Rabatz zu machen, kanns mir auch nicht so recht vorstellen, dass die Nordwestbahn nach alledem noch zu stoppen oder still zu legen ist – wenn es aber mit allem neu gewachsenen Widerstand doch klappen würde. Wow. Was für eine Demonstration vom Bürgerwirksamkeit! Zeigt mir bitte alle, dass so was möglich ist!
Rückbau, Kartbahn, ließe sich ja auch was andres auf dem Areal machen.