Endlich sind wir da: Guten Abend Litauen! Runter von der Fähre, den Mitradlern ein herzliches „Machts gut!“ – los gehts.
Klaipeda riecht nach frisch geschnittenem Gras – Pat navigiert uns zielsicher mitten durchs Unbekannte zu unserem Hotel. Megaspannend. Alles ungewohnt und neu, die Synapsen brennen. Die Gebäude mal hip und abgespaced wie in Holland, mal sozialistisch-grau, oder völlig heruntergekommen. Das Theater mutet an wie eine Mischung aus Kirche und Feuerwehr – ein grauer Betonturm mit Fahne. Überall wird gebaut. Unerwartet finden wir uns auf einem super Radweg, wie ein roter Teppich ausgerollt führt er überall hin, außer in die Altstadtstraßen. Da lieben sie europaweit den Hoppel-Koppstein. Klaipeda (das e wird kurz gesprochen) ist vielleicht keine Schönheit, aber ihre Altstadt hat Charme, ihre Menschen sind herzlich. Zeitlich sind wir um Wochen zurückgebeamt: Bei uns sind – am 26. Mai – Tulpen und Kastanien längst verblüht, hier öffnen sie sich gerade. Auch das ein erster Eindruck: Blumen und Blumen überall. Zu unserer Unterkunft, online gebucht für 2 Nächte, lässt sich positiv sagen, dass sie billig war und uns plus Rädern Obdach bot. Wir bleiben eine Nacht.
Die drittgrößte Stadt Litauens summst vor Leben. Manchmal rummst sie auch krass. Vor allem, wenn ein Linienbus die historische Brücke quert – und das geschieht im 10-Minuten-Takt, der Bahnhof ist nahebei. Es sind Beton/Metallplatten, die aneinanderkrachen, dass eigentlich gleich die Brücke mitsamt den umliegenden Häusern einstürzen müsste und wir innerlich einen meterhohen Satz machen… Aber Pff! Niemanden kümmert‘s und schon donnert der nächste Bus mit WUMMS über den Fluss Dane. Ahja. Man beginnt, sich zu gewöhnen, erwartet schon das Getöse beim nächsten, nahenden LKW und – siehe da: Es geht auch leise. Durch ihre Innenstadt sprinten die Klaipedaer ultramodern gekleidet und mit urbaner Geschäftigkeit. Coffee-to-go und Laptop wie überall.
Vom Reiseführer weiß ich, dass Litauen sich vieler Übergriffe erwehren musste. Das Land war erzwungenermaßen russisch, deutsch, französisch und sowjetisch. Der dadurch erstarkte Nationalismus kostete im zweiten Weltkrieg Intellektuelle, Widerstandskämpfer, Unangepasste und fast alle Juden des Landes das Leben. In Klaipeda sehe ich kleine, bronzene Schuhe. Eingelassen in den gemauerten Wurzelteller eines Baums im Stadtkern. Man muss kein Wort litauisch beherrschen, zu erspüren, woran sie erinnern sollen. Die versuchte „Russifizierung“ machte aus dem ehemals verschlafenen Bauern- einen Industriestandort, lese ich auf Wikipedia. So richtig nachvollziehen, was das bedeutet, kann man ja kaum. Zum Glück für uns ist Litauen seit 1991 unabhängig – und seit 2004 in der EU. Heißt: Die Schrift ist lateinisch,x man kann also versuchen, sich in die Aussprache reinzufuchsen. Und: Je jünger, desto besser sprechen die Leute Englisch. Zudem wirbt man durchaus um unser (Touri)eins…
Unser erster Morgen in Litauen beginnt mit Früchten auf „Yoga“ in einem Café an der Straße. Ich ordere noch eine Luxus-Zimtschnecke und behalte ein romantisches Bild im Kopf: lichtes Grün und weiße Blüten – eine Frau in Rock und High Heels schwingt vorbei, einen Strauß Maiglöckchen in der Hand. Irgendwo muss Markt sein, denke ich, aber jetzt zieht es uns zur Fähre – wir wollen auf die Nehrung.
Kaum drüben auf der Landzunge angekommen erwecken wir die erste der Touren zum Leben, die Pat mit Herzblut in vielen Stunden für uns ausgeheckt hat. Die erste ist vor allem ein Transit zum Zeltplatz. Etwa 70 Kilometer. Trotzdem halten wir gerade anfangs immer mal, um uns etwas anzuschauen. Von unserem Zeltplatz aus werden wir keine 120 km fahren um nochmal herzukommen. Das ist ja unser Grundkonzept: Guten Zeltplatz finden, und dann gepäckfrei die Gegend erkunden. Während andere schon Strecke gemacht haben und hinterher sagen, „Wir waren im Baltikum“ gehen wir auf Tuchfühlung, lernen Leute kennen, erfahren was von deren Alltag und sind somit auf einer intensiveren Reisespur.
Ein Teil der Strecke gehört zum europäischen Ostseeküstenradwegenetz – es ist der beste Radweg, den wir gefahren sind, geradezu ein Rasweg. Mit EU-Geldern finanziert, führt er mitten durch ein Naturschutzgebiet, was manches kleine Tier mit dem Leben bezahlt. Bis zur russischen Grenze führt das Asphaltband, wo das Wegprojekt leider mit Ausbruch des Krieges ein Ende fand.
Der Zeltplatz am Rand des ehemaligen Fischerorts Nida ist unser Ziel an diesem Tag. „Ankommen“ heißt dort, erstmal kapieren, dass dieser Platz Zeltern wie uns nichts Nettes bietet. Es gibt einen gepflegten Tennisplatz, Appartements zu mieten – und für diese Mieter Pool und Sauna, aber keinen Unterstand oder Aufenthaltsraum, wo unsereins bei Regen sitzen kann. Keine Einkaufsmöglichkeit, WLAN nur direkt vor der Rezeption. Waschen fünf, Trocknen nochmal fünf Euro – und das Restaurant ist geschlossen bis 1. Juni. Nagut. Wir finden in einer Ecke einen schönen, erhabenen Platz, und bauen ihn zu unserer Meisenburg aus. Herrlich. 60 Meter zum Strand – so lassen sich die Tage fein beginnen und schließen.
Zu den Highlights, die wir erkunden, gehört die 10er Dünenkette der Nehrung. Wir schauen drei davon näher an, zunächst die mit 67 Metern höchste Vecekrugas-Düne. Wir erklimmen sie by bike, und landen oben im brutheißen Sand. Kiefern, Flechten und Moos halten da die Stellung. Es ist schön, man kann die Ostsee sehen, muss aber bisschen schieben. Wüste lässt grüßen. Zurück nehmen wir den steilen Weg nach unten durch den Wald. Zu unseren Füßen erst leuchtend grünes Gras, dann Farne und Moos. Es duftet herb nach Moor und dunkler Erde. Schließlich landen wir auf dem zentralen Radweg, die Ameisen freuen sich, dass wir bei ihnen Pause machen.

Die Parmidis Düne erwandern wir vom Zeltplatz aus. Nebelkrähen schreien, schwingen sich auf, kreisen über uns. Wir haben sie wohl von irgendeinem Geheimtreffen oder Festmahl aufgescheucht. Wer wandert schon bei Regen durch den Wald? Wo die Krähen sind, ist der der Wald zaubrisch schön.
Ha! Wir sind azyklisch zu allen anderen Besuchern unterwegs. Anziehungspunkt sind ein Obelisk, der als Sonnenuhr arbeitet und die „Gegen den Wind“ getaufte Bronzefigur von Sartre. Die Sonnenuhr ist ein Kunst-Projekt, wird in allen Reise-Broschüren gerühmt und von allen Touri-Bussen angefahren. Sie soll die größte der baltischen Staaten sein – und litauische Zeit anzeigen (Greenwich plus 2 Stunden). Schriftsteller, Künstler, Fotografen – Kultur ist auf der Nehrung allgegenwärtig… Von der Sartre Figur tropft der Regen und ich nehme das wunderbare Zitat mit, das der Bildhauer Klaudijus Pūdymas zu Füßen des Franzosen eingraviert hat: „Je me sens comme si je frappait au Porte du Paradis.“ Paradies… so kommt‘s mir öfter vor, wenn wir wieder auf unserem Weg in einem märchenhaften Wald landen. So schön, dass man sich ins Moos legen und für immer bleiben möchte. Die Landschaft auf der Nehrung ist abwechslungsreich – Heide, Moor, Mischwald, Feuchtbiotop, Kiefernwald und Strand.
Die „Tote Düne“ ist die nördlichste, die wir für diesmal besuchen. Unterm Sand liegt das Dorf Nagliai begraben, das vor Jahrhunderten verschüttet wurde. Deshalb soll sie tote Düne heißen. Jetzt ist die Gegend Naturschutzgebiet. Man läuft einen Bohlenweg hoch, für 5 Euro pro Nase, und wieder runter. Bam, das wars. Beeindruckender Ausblick oben, aber auch beeindruckender Touristennepp. Sehen kann man vom Bohlenweg aus nur Sand. Aber, hey, man war da, wo alle hinwollen auf der „Grauen oder Toten Düne“.
Stichwort Besucherlenkung. Die Niederländer haben das – etwa in Zeeland – besser gelöst, finden wir. Sie verlangen an den Dünen einen kleinen Eintritt, und lenken dann die Wanderer auf hinreißenden Wegen, auf denen man auch was vom wilden Leben erhaschen kann.
Auf meiner Wunsch-Liste von zuhause stand auch der historische, deutsche Friedhof in Preila. Hierher waren die früheren Einwohner des verschütteten Dorfs von Nagliai umgezogen. Überm Eingang steht auf deutsch und litauisch: „Hier ruhen wir und sind im Frieden, und leben ewig sorgenlos. Ach, lasset dieses Wort Ihr Lieben. Legt euch dem Heiland in den Schoß.“ Maiglöckchen und weiß-grüne Hortas leuchten in den steingefassten Gräbern.
Nicht auf der Liste hatten wir den geschichtlichen Schaukasten In Nida. Den hätten wir fast übersehen. Es wird hier nicht wie bei uns alles groß ausgewiesen und beworben, nichtmal die Supermärkte. Man kann sie glatt übersehen. Von diesem Kasten erzählten uns die Reiseradlerkollegen aus Straßburg. Da es nur einen Zeltplatz auf der Nehrung gibt, landeten sie irgendwann auch da, testeten dasselbe Restaurant, fanden es so gut wie wir und erkundeten dann zwei, drei Tage die Umgebung. Schließlich fanden wir den Kasten. Mit viel Liebe sind darin Alltags-Szenen der Nehrungsbewohner nachgebildet, es waren überwiegend Fischer.
Die Begleittafel weist auf ein ganz besonderes Phänomen hin, eine Immunität gegen Landbesitz, die ich mir für den Rest der Welt wünschte: Der Sand, der als zehn Meter hohen Wand wanderte und alles verschlang, war der Erzfeind der Menschen. Man konnte kein Vieh weiden lassen oder halten, kein Getreide anbauen. Daher hatte Land keinen Wert, Landbesitz keine Bedeutung. Man musste immer gewärtig sein, sein Haus an den Sand zu verlieren. Auf Wanderschaft ging der aber erst, nachdem man zuvor allen Wald abgeholzt hatte…
Kurische Nehrung heißt auf Litauisch Neringa, es ist der Name der Riesin, die die Nehrung mit Sand aus ihrer Schürze erschaffen haben soll, zum Schutz der Fischer auf dem dahinter liegenden Haff.


Apropos: Das Haff und damit das Memeldelta wollten wir uns in der zweiten Woche anschauen. Von Nida nach Silute mit der Fähre – so der Plan. Die Fähre sollte ab Juni fahren. Die Straßburger, waren bereits auf dem Weg nach Riga, als wir erfuhren, dass der Fährbetrieb eingestellt wurde. Was nun? Wir wollten nicht wie sie die Nehrung wieder zurückfahren, wir wollten aufs Haff. Wir fragten die so hilfsbereiten wie geschäftstüchtigen Bootsleute – und fanden eine Lösung. Statt 17 Euro pro Nase bezahlten wir bei ihnen zwar 35, konnten aber fahren. Ein cooler Reiseradler aus US, den wir am nächsten Tag trafen, fand diese Lösung nicht. Auch er strampelte die Nehrung wieder hoch und über Land ins Haff. Immer flexibel bleiben, heißt die litauische Radler-Devise.
Pat plant um und neu, und wir verlassen Nida einen Tag früher als gedacht. Zum Abschied steuern wir das schönste Kaffee im Ort an. Dort warte ich für einen Matcha Latte und einen Cappu satte 20 Minuten. Wir sind trotzdem rechtzeitig am Boot und die ersten an Bord, mit Pack und Rad. Ahoi schöne Neringa, don’t tourist too much!!

