Schwanger werden durch Fremdsamen – ist das Ehebruch? Das war die erste Frage, die die Gründern der weltweit ersten Samenbank 1936 in den USA zu klären hatten. Heute reißt die Injektion einer Samenzelle niemanden mehr vom Hocker, denn unter allen machbaren künstlichen Befruchtungsmethoden ist sie mittlerweile die simpelste. Heute dringen Methoden und Fragen weit tiefer in die Körper der Beteiligten – und damit in den Körper der Gesellschaft ein. Mit Samenspender, Eizellspenderin, Leihmutter, Embryologin oder Retortenkind gerät die alte Vater-Mutter-Kind-Familie zum komplexen Konstrukt. Der Journalist und Kulturwissenschaftler Andreas Bernard fragt in seiner als Buch veröffentlichten Habilschrift, ob – und wenn ja, wie – sich dadurch das Bild der Familie verändert. Was bedeutet es, wenn ein Kind bis zu fünf Elternteile haben kann? Die sich noch dazu in biologische und soziale Eltern aufspalten? Und wie veränderet sich die Funktion, die Rolle oder die Identität aller ihrer Angehörigen?
Die Recherche rund um die „assistierte Empfängnis“, die zunehmend nicht nur eine künstliche, sondern vor allem eine „optimierte Reproduktion“ darstellt, macht frappierend klar, wie sehr die eigentlichen Protagonisten, Eltern und die Kinder, aus dem Blickfeld geraten sind. Im sterilen Umfeld des Labors wird der Umgang mit Samenzellen, Nährflüssigkeiten und Pipetten zur Routineangelegenheit. Emotionen haben hier nichts verloren. Der jüngste Trend des social freezing, bei dem Frauen ihre Eizellen einfrieren lassen (können? sollen? wollen?), die erst Karriere, dann Kinder aus eigenen jungen und gesunden Eizellen haben wollen, ist nur ein weiterer Dreh an dieser soziobiologischen Verfasstheit.
Bernard erzählt vom Vorantasten der frühen Forscher und dem Einfluss des Christentums auf ihre Vorstellungen. Kaum zu glauben, wie Tabus und Ängste bis heute unser Bild von Mütterlichkeit, Ehe oder Familie prägen. Die Entdeckung des Spermiums (1677 in Delft) ist ein packend erzähltes Stück Sexualgeschichte und mancher mag die darauf folgende Entdeckung (150 Jahre später) des Säugetier-Eis eklig finden. Bis dahin hielt man Frauen für zeugungsunfähige, minderwertige Männer. Exakt noch einmal 150 Jahre vergehen, lässt uns Bernard staunen, bis Louise Brown, das erste Retortenbaby der Welt, geboren wird. Dass ihre Eltern dabei nicht mal ahnen, dass ihr Kind eine Sensation ist, ist bezeichnend für die Diskrepanz zwischen dem Tempo des medizinischen Fortschritts und der Langsamkeit, mit der wir ihn begreifen. Ganz zu schweigen von der Fähigkeit einer Gesellschaft, derartige Veränderungen in ihre traditionellen Konzepte zu integrieren.
Der wortgewandte Autor nimmt LeserInnen mit an Orte, zu denen sonst niemand Zutritt hat, etwa zur Münchner Embryologin, die in ihrem Labor schon über 10 000 Kinder gezeugt hat. Was er wiedergibt ist filmreif: Wie sie mit den Zellen redet oder dass sie diese am liebsten verschmilzt, während sie Wagner hört… Gespräche mit weiteren Medizinern, Geschäftsführern von Samenbanken oder Leihmutter-Agenturen machen deutlich: Aus dem sehnsüchtigen Kinderwunsch von Paaren, die ungewollt kinderlos bleiben, lässt sich ein gutes Geschäft machen. Zwischen ein paar hundert Euro für eine Samenspende und über 100 000 Euro für Eizellen- und Samenspende plus Leihmutter können ein deutsches Paar die Dienstleistungen rund ums Kinderkriegen kosten.
Ob Kinder mit ihrer Herkunft Probleme haben oder nicht, hängt nach einer Studie mit Kindern homosexueller Paare vor allem von der Akzeptanz ihres Umfelds ab – und die fällt sehr unterschiedlich aus, bis vor 100 Jahren waren solche Familien undenkbar, und Kinder aus Samenspenden wurden als „Monster“ tituliert.
Genug Stoff zum Nachdenken. Als Magazinjournalist weiß Bernard spannend zu erzählen, als Kulturwissenschaftler interessiert ihn die Verknüpfung des Heute mit dem Gestern. Das ist ein besonderer Ansatz – und das Ergebnis sehr lesenswert. Es wirft neues Licht auf eine Debatte, die gerade beim Thema Wunschkind/Kinderwunsch gerne besonders erregt verläuft. Zeigt aber auch: Den richtigen Dreh, diese neue, ausgelagerte Form von Intimität emotional zu verarbeiten und aufzufangen, haben wir als Gesellschaft noch nicht gefunden. Vielleicht wirkt das Ende deshalb so zerfasert und unentschlossen.
Andreas Bernard: Kinder machen. Neue Reproduktionstechnologien
und die Ordnung der Familie. Fischer Verlag, Frankfurt 2014, 543 S., 24,99 Euro.
Die Rezension ist in ähnlicher Form in der März-Ausgabe von Psychologie Heute 2015 erschienen.