Elche! In der zweiten Woche unserer Litauentour sahen wir Elchspuren und dann sogar die stattlichen Kerle selbst! Aber erst zum Schluss – am letzten Tag auf dem Weg zur Fähre. Szusagen die Sahne auf der Litauentorte…
Unser erster Tag auf dem Haff war wie Vorschau auf die kommenden Tage. Pat hatte uns eine Tour improvisiert, da wir ja ganz anders auf die Haffseite kamen als geplant. Als wir uns da durch den Staub pflügten dachte ich noch, die Litauer bauten neue Straßen, es fehlte halt nur noch die Asphaltdecke. Eine Woche später hatte ichs kapiert und teils ziemlich alt ausgesehen: Dieser hingeschüttete Flusskies war bereits die fertige Straße. War sie frisch angelegt, musste man sich als Reiseradler seinen Weg bahnen. Mehr als einmal hätte ich am liebsten das Rad in den Graben geschmissen und mich selbst dazu. Muskelkater in den Oberarmen, schmerzende Knie. Tscha, da musste man nun wirklich einfach durch. Immerhin gabs auch asphaltierte Wege oder festgefahrenen Kies.
Der erste Eindruck: Rurale Weite, durchzogen von kleinen und größeren Flussbändern. Immer wieder auch Seen, viele Wasser- und Greifvögel. Außerdem Pferde und Kühe, die immer sehr interessiert waren, welche komischen Menschen ohne Auto sich an ihnen vorbeiarbeiteten. Sogar Baummarder sahen wir – einen lebendigen und leider auch einen überfahrenen.
Gleich am ersten Haff-Tag nahmen wir uns Zeit für das wunderbare Naturschutzgebiet des Aukstumala-Hochmoors. Ein Traum. Die Holzbohlen waren hart, aber warm unter meinen nackten Füßen. Die Birken leuchteten und im feuchten Moor blühten Sumpfcallas und andere Moorspezialisten. Am Ende des Wegs ein Aussichtsturm mit Banke. Großartig.
Kaum wieder auf den Rädern, schockte uns das abrupte Ende dieses Traums. Birken gefällt, Land trockengelegt: Torfabbau in großem Stil. Wasserkanal und Birkensaum dienten als Sichtschutz. Zum Heulen. Und doch wilde Natur überall. Wildblumengesäumte Böschungen, Feuchtbiotope dahinter oder Ackerland, Kleingärten mit löwenbärtigen Iris vorm Plumpsklo. In den Orten die Gebäude mal schick herausgeputzt, denkmalgeschützt und mit filigranem Kunsthandwerk, mal klotzig sozialistischer Plattenbau, mal Villen, die ihren Protz ängstlich mit Alarmanlagen absteckten und mal Arme-Leute-Bruchbuden.
Unser Reisezuhause lag bisschen außerhalb, dafür waren wir die nächsten Tage allein auf der Zeltwiese! Still und idyllisch. Der erste Morgen begrüßte uns mit einem Storch. Der hatte uns zwar im Blick, schritt aber weiter durch die Heuwiese direkt vor unserem Zelt. Als Soundtrack Heidelerchengesang! Hach, so wunderbar! Zuletzt hörte ich sie bei unsrer Maastour. Dann noch ein Grundbeat aus der Ferne, wo Tag und Nacht jene Maschinen rumpeln, die aus Moor Torfabbauzonen machen. Natürlich handelte es sich ausschließlich um Gebiete, die zu degradiert sind, um erfolgreich renaturiert werden zu können. Also, nahmen sie sich das Land – deutsche Firma auch noch. Fällten Birken, zerhäckselten sie zu Pellets, machten Profit aus Landschaft. Comme ça. Seit Jahrhunderten. Ŝilute war ja mal deutsch und mal französisch und lange russisch.
Luxus am Zelt: Morgens Latte (ich), Earl Grey (Pat), dazu Croissants und Joghurt mit Erdbeeren. Danach barfuß eine Runde durch den Maiglöckchenwald. Dort fand ich frische Rehbetten, noch warm? Und sah draußen im Feld einen Rehbock. Er schaute wohl rüber, aber ich versteckte mich. Ihn nicht verscheuchen war mein Ziel. Es gelang: Ich durfte ihn eine Weile begleiten.
Auf dem alten deutschen Friedhof nebenan sind die Schatten gewachsen. Maiglöckchen nicken einander zu. Weißt du noch? Es gibt sogar noch gepflegte Gräber ganz am Rand. Über die ältesten aber hat Efeu seine Decke gebreitet. Die wolkenweißen Glöckchen blühten dennoch – Tulpen auch in schockierendem rotgelb – sowie zaubrische Akeleien, die in weiß und violett überm Efeu schwebten. Vier Samen nahm ich mit nach Haus.
Dann Regentag. Regentag? Wir erkundeten die Stadt. Ich suchte und fand die Post, wo man keine Ahnung hatte, wie viel wohl eine Postkarte nach Deutschland kostet. Zum Glück hatte ich noch eine Marke, zeigte sie vor, und bat um noch drei derselben Preisklasse. Auf der Hauptstraße lockten 50iger Jahre Neonschriften: „Optik“ und „Damenunterwäsche“ in mittlerweile wieder hippem Design. Und in den Läden alles voll, und die Frauen noch immer pudelhübsch wie in der 50iger Reklame.
Viele Skulpturen zeigte uns Litauen. In den Parks, an den Flüssen. Überall. In Ŝilute sah ich einen ewigen Angelkalender. Er erzählte eine kleine Geschichte, nämlich wie ein Fischer dem anderen lieber nicht verriet, dass er einen sehr guten Fang hatte.
Ich liebe das mir so fremd Anmutende dieses Lands, die Straßenszenen, die Sprache, die unbekannten Namen. Wie weich sie auf der Zunge liegen: Kebabinai. Zwei alte Damen sitzen an der Kebabinai-Bude – der Wohnblock dahinter ist sicher ihrer – und essen Pommes.
Im Café Coco waren wir auch triefnass willkommen. Wir – ja wir! – aßen Kuchen, tranken Cappu und ich schrieb Postkarten in die Kinder- und Freundeswelt. Eine künftige Kontaktaufnahme mit Spuren des Jetzt. An deisem Tag war mir so komisch, so leer. Und aus der Tiefe des Leeren drang ein Nichthaltenkönnen der Welt, eine Abscheu mich zu erinnern, woran auch immer und eine Angst gleichzeitig, alles Erinnerte könnte mir für immer versiegen. Und ich zurückbleiben. Leer, ungeliebt und ungeherzt. Hach, der Unterwegs-Blues, der manchmal einfällt, trotzdem doch alles gut ist. Jedenfalls in dem Moment, und für einen selbst. Während anderswo… Naja.
Am Einkaufsladen unserer Wahl traf ich einen Mann, der hochkonzentriert, beinah liebevoll Leergut in einen Automaten platzierte. Plastikflasche um Plastikflasche, Getränkedose um Getränkedose. Kam eine Dose zurück, musterte er sie, zog sie glatt, versuchte es nochmal. Lehnte der Automat sie wieder ab, warf er sie zügig aber betrübt ein den bereitstehenden Eimer. Die Frau am zweiten Automaten agierte fast wie er, nur weniger hingabevoll. An den Geräten waren wie Knäufe geformte Haken angebracht, daran hängten sie ihre Flaschentaschen. Sehr praktisch.
Ich hatte auch vier Flaschen und ich wartete. Wie beim Tennis schaute ich mal nach links, mal nach rechts. Wer würde als erstes fertig sein? Sicher nicht der Hingabevolle. Der hatte einen riesigen Müllsack voller Leergut. Ich hypnotisierte den Automaten, bis der Schluckauf bekam, trat vor und fragte: „May I put my bottles…?“ Ich zeigte meine Flaschen vor. Er zögerte. Eigentlich nicht. Aber dann durfte ich doch. Flaschen rein – und dann hieß es wählen: „Spenden“ oder „Auszahlen“. Mein Finger lag schon auf dem Spendenknopf, doch der Profi schüttelte energisch den Kopf. Wies meinem Finger den einzig richtigen Weg: Auszahlen!
Ein Land bereisen heißt auch, seine Menschen kennenlernen. Wir mussten erst kapieren, wie man hier tickt. Sehr sympathisch. Die Leute lassen dich in Ruhe. Fragen nicht „Was kann ich für Sie tun? Wie kann ich Ihnen helfen?“ Selbst ist der Ostmensch. Und gastfreundlich: Sag mir, was du willst, dann werde ich alles tun, damit du es gut hast. Sie leben schon ein bisschen anders hier. Haben aber auch ihre Status-Vorstellungen.
Autos allgegenwärtig wie bei uns. E-Bikes so gut wie keine (noch). Ihre West-Träume vom Eigenheim und Ferienhaus sahen wir leider überall am Straßenrand. Natur zu Pool und Marina, rette sich wer kann. Same procedure leike everywhere.
Auf unseren Streifzügen sahen wir so viel, es wird sich immer mal wieder ein Erinnerungssplitter finden oder in einem meiner Träume eingehen. Der in den Graben gefahrene LKW etwa, den sie mit einem anderen LK versuchten rauszuziehn. Ohne Erfolg. Oder ganz krass: Die Beringungsstation. Wir sahen sie schon beim Durchfahren der Memelmündung: Ein riesiges signalgrünes Netz. Diese Station wollten wir uns näher ansehen. Auf dem Weg dorthin zeigte sich schon: Wir würden nicht alleine sein. Troztz mirederm Wetter zog Schulbus um Schulbus an uns vorüber. Vor Ort alles voll.
Erst da habe ich Aufbau und Zweck des Netzes verstanden: Es ist eine Art Trichter oder Riesennetzmaul, das Vögel aufnimmt und zu einem immer schmaler werdenden Tunnel leitet. Dort werden sie in Empfang genommen, beringt und wieder freigelassen. An der Beringungsstation am Ende des Netzmauls war irgendwas besonderes los. Gequietsche und Gekreisch, Imponiergehabe der Jungs, Herumgehopse der Mädchen. Auf einmal realisierte ich: Die wildesten Kreischer hatten Stare in den Händen. Ein Mädchen saß abseits und weinte. Sie hatte blutige Kratzer am Oberarm. Ich brauchte einen Augenblick, bis mein Hirn akzeptierte und verarbeitete, was der Sehnerv ihm funkte. So bescheuert kann doch wohl kein Orni sein?! Es war nicht zu fassen. Ich wollte nur noch weg.
Da wir aber dringend eine Essenspause brauchten hielten wir am Parkplatz-Kiosk, wo es alles gab. Geräucherten Fische, Eis, Spielkrams… und Kaffee. Ich packte meine Becher auf den Tresen und orderte zwei Cappus. Draußen raste und kreischte eine andere Kinderhorde, Müll säumte bunt ihre Anwesenheit. Wo sie wohl herkamen? Beim Übersetzen von Klaipéda auf die Nehrung hatten wir das Gegenteil erlebt – entspannte aber zugewandte Lehrerinnen, geordnetes Agieren aller. Menschenkinder, nicht Aufgedrehte Aliens aus irgendeinem Spiel.
Beim Wegfahren hatte ich immerhin noch Augen für die traumhaft schönen Iris-Blüten am Wegrand. Iris! Wuchsen überall, wo wir entlang kamen, am Stadtrand, in kleinen wie ihn großen Gärten, und nicht nur Iris – es ist offensichtlich: Litauer lieben Blumen.
Auf den Markt in Ŝilute etwa lockten mich am Eingang die Maiglöckchensträuße. Einmal dort konnten wir uns nicht satt sehen am teils völlig unbekannten Angebot. Lauter Ministände mit selbst gemachtem Quark – varŝke -, Käse in mir unbekannter keulenartiger Form. Tomatenpflanzen, Motorsägen, Klamotten, Gebäck – und noch viel, viel mehr. Kurz: Alles. Es gab einfach alles. Und die Verständigung erfolgte mit Fingern, Englisch und Humor. Markt as Markt can!
In der Markthalle dann nochmal eine Steigerung, der Steinboden dunkel und glatt, gerade frisch gewischt. Wir kauften ein halbes Brot – leider nur ein halbes! – und dann noch ein halbes Hefebrot, mit Rosinen und gelb von Kurkuma – beides großartig. Habe zuhause das Brotrezept nachgebaut, zum Glück gab es einen Inhaltszettel, der die Rückreise nach Frankfurt überlebt hat. Pat wiederum schwelgte ein weiteres Mal in Räucherfisch. Diesmal beglückte er sich mit Räucherlachs – und wir kommen bis heute nicht aus dem Staunen heraus. Das Kilo vierfünfzich. Euro! Bei uns auf dem Markt zahlt man 70 Euro mehr für den gleichen atlantischen Fisch! Erklärt das bitte mal.
Bäckereien sahen wir nur sehr wenige, aber wo es eine gab, kriegte ich mich kaum ein. Kuchen gibts hier zum Kilopreis – die Größe deines Stücks kannst du selber wählen. Auch Kekse und süß oder deftig gefüllte Teigtaschen – alles zum Kilopreis. Die krassesten Sachen – gerne mit varŝke – oder bunt verziert. Ich war im Kuchenhimmel. Zwei große Cappus (einer mit Sojamilch) plus zwei Gebäckteilchen für 5,34… Nachdem wir endlich diese Bäckerei gefunden haten, gabs jeden Morgen ein zweites Frühstück dort. Und wenn sie nicht wieder in Frankfurt wären, könntet ihr sie morgen früh wieder dort anstehen sehn.
Maybe next year. Im Herbst zur Zugvogelzeit. Wir haben uns bei den netten Gastgebern Auŝra und Gedas schon angekündigt. Dann werden wir nicht bei ihnen auf der Wiese zelten, sondern in der kleineren ihrer beiden Hütten unser Reisezuhause haben. Wir konnten uns die Hütte schon anschauen. Als es eine Nacht stürmte, gewitterte und wie aus Eimern schüttete, kamen die beiden am nächsten Morgen mit dem Schlüssel – wir sollten doch bitte in die Hütte gehen, es koste auch nichts extra. Schlichtes Holzhaus, aber alles da. Und wir wollen dann ja auch nicht den ganez Tag drinnen hocken, sondern draußen sein! Zugvögel bestaunen und hoffentlich auch wieder Elche sehen. Aciu Litauen! Danke! Für deine Gastfreundschaft und wunderbaren Eindrücke. Aciu!

















