Die Strickgraffiti von letztem Donnerstag war binnen eines Tages weggeschnitten. Der Platz wieder finanzklar – von den Verstrickungen von Bulle und Bär zeugen nur noch Erinnerungen und Fotos. Auch das ein Zeichen. Eines der demonstrative Missachtung der (Hand-)Arbeit. Aber jetzt vom Streetknitting zur Straßenfotografie: Das Straßenleben heute ist in Parzellen eingeteilt: Zutritt erlaubt, Zutritt verboten. Und nicht nur in Deutschland ist zunehmend mehr verboten als erlaubt. Die modern Straße ist ein Parcours von Paragrafenhaken und Gesetzesabsätzen. Am besten, man hat immer ein Paket Model Release-Formulare in der Tasche und den Rechtsanwalt dabei – polizeigerecht und securitysicher.
Suche nach Sicherheit ist uns Menschen angeboren, ist jedoch schleichend zu einer Sucht nach Sicherheit mutiert. Die kurzatmig gewordene Evolution wird sicher rasch auslesen, ob wir das überleben: Viele, immer mehr Menschen scheinen sich unsicher zu fühlen, sobald sie keine Kontrolle mehr über das sie direkt umgebende Umfeld besitzen, sobald sie Haus oder Auto verlassen. Diese Angst vor Kontrollverlust findet ihren Niederschlag in Rückzug ins private Terrain, Verteidigung dieses Gebiets notfalls mit Klauen und Hundezähnen, Sicherheitsanlagen, Videoanlagen, Warnmelder aus Licht, panzerartigen Offroad-Autos… All das Hightech-Securityzeug hat jedoch eine fatale Konsequenz. Das Vertrauen in die Welt im Allgemeinen und in mein Gegenüber im Besonderen sinkt. Und parallel dazu das Vertauen in die eigene Tatkraft, das Selbstbewusstsein. Technisch hochgerüstet infantilisiert das Selbst, ist hilflos im Angesicht eines Menschen, der um Hilfe bittet. Was? Weiß nicht mehr, wann es wo sicher ist. Und wann es sich empfiehlt Angst zu haben, sich aus dem Staub zu machen. Rechtsanwalt! ruft es, Polizei!
Seit 9/11 ist auch Terrorismusverdacht ein gängiges Argument. Haben Sie eine Genehmigung? Erst fragen, dann fotografieren? Straßenjournalismus, Straßenfotografie ist anders. Spontan. Nimmt Dinge auf, die der Alltag bietet. Es ist das Glück des Fotografen zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein, oder sein Geduldsfaden, der ihm ermöglicht, auf den rechten Augenblick zu warten. Was passieren kann, wenn man sich an sicheren (und teuren Stellen) der Stadt postiert, um Fotos zu machen, zeigt das Video „Stand your Ground“ des London Street Photography Festivals: Sechs Fotograf_inn_en wurden bei ihrer Arbeit gefilmt. Mehr über Rechtgefechte für Straßenfotografen: in PhotoNews, aktuelle Print-Ausgabe, und die davor. Stand your Ground, würde ich auch interpretieren als „die Bodenhaftung nicht verlieren“, „sich nicht kirre machen lassen“. Wissen, wie man mit Menschen redet. Würde auch viele Nachbarn vor unsinnigen Hilferufen nach dem Rechtsanwalt bewahren.
Was im Gesetzes-
dschungel völlig außer Sicht gerät: Die Kameraheld_ inn_en der Straße erfüllen eine wertvolle Doppelmission: Sie zeigen uns wie wir leben. Gesellschaft jetzt, ungeschminkt. Und Jahre später können wir sehen, wie diese Gesellschaft einmal war, wie die Welt sich verändert hat. Besonders deutlich wird das gerade in der Ausstellung „Road Atlas“, die noch bis 16. Oktober 2011 in den Rüsselsheimer Opelvillen den Blick auf 70 Jahre Straßenfotografie ermöglicht. Gezeigt werden Bilder aus der DZ BANK Kunstsammlung zum Thema Straße. Und gleich die ersten Bilder zeigen, dass sich seit 1955 die Welt dermaßen gewandelt hat, dass gestern und heute schier kaum noch vereinbar sind.
Eine Kindheit, wie sie etwa aus Helen Levitts Fotos aus New York quirlt, würde Eltern oder Versicherungsver-treter heute gellend losschreien lassen. Auf einem Foto sind fünf Kinder zu sehen, die auf einem Hauseingang spielen. Eine Tür, die von steinernen Säulen gerahmt ist, das Ganze könnte zwei bis drei Meter hoch sein. Zwei Kinder sind schon oben und machen Faxen, zwei andere klettern gerade hinterher… Und auch auf anderen Bildern treiben die New Yorker Rabauken alles mögliche – auf der Straße. Heute? Straße ist gefährlich, Park auch, Klettern sowieso. Wald ist dreckig, könnte man sich die Vogelgrippe holen. Deutsche Kinder werden immer dicker, können kaum noch Rad fahren, geschweige denn einen Baum hoch klettern. Verunfallen daher oft. Geschwitzt und gehüpft wird vor der Wii-Spielekonsole.
Vom Leben vor 50 Jahren trennt uns nicht nur eine Generation, sondern Welten. Das zeigt auch die Straßenszene aus dem Ruhrgebiet – drei Kinder rennen über eine Straße, die sonst leer ist bis auf eine „Käseglocke“, so hieß einer der 50er Jahre-Motorroller mit Dach, der Messerschmitt Kabinenroller. Oder die Männer unter dem noch arg kriegslädierten Platz unter den Linden. Kunstvoll arrangiert und herrlich komisch wirken auch die Karambolage-Fotos des Schweizers Arnold Odermatt. Die Kobe-Erdbebenbilder des Japaners Ryuji Miyamoto vom dagegen sind eine Welt für sich.
Etliche der modernen, seriellen Straßenfotos wirken im Vergleich dazu redundant und nichts sagend. Bei Philip-Lorca diCorcia etwa sind es Mittage auf der Straße, die schnell wieder aus dem Gedächtnis rutschen. Eine Aussage zur Beliebigkeit und Überfülle visueller Reize vielleicht, die er ebenso wie Beat Streuli macht, aber kein Bild des Alltags, das hängen bleibt. Mit sengender Kraft dagegen brennen sich die Fotos des Südafrikaners Pieter Hugo ins Hirn. Männer mit Tieren an Ketten. Die Serie heißt Hyena & Other Men. Pieter Hugo hat Albinos porträtiert, die man wohl auch Hyänenmänner nennt. Geächtete, die ein von Gewalt bedrohtes Leben führen. Von Hugos Bildern ist in Rüsselsheim eines zentral gehängt, das Foto eines Schwarzen, der auf der Straße sitzt, raucht. Zwischen seinen angewinkelten Beinen eine Hyäne an einer monströsen Kette. Bedrohlicher Alltag. Fern von Rüsselsheim. Ein Ausstellungsbesucher hat ins Gästebuch geschrieben: „beeindruckend, aber manchmal auch bedrückend“. Straßenleben.
Kinder fotografieren, wie es Helen Levitt so wunderbar gemacht hat, ist heute rechtlich undenkbar. Nicht umsonst sind heute nicht nur Kinder, sondern Menschen ganz allgemein auf Zeitungsfotos oft kopflos (kein Kopf, kein Recht auf das eigene Bild), von hinten angeschnitten oder sonst unkenntlich. Eine Straßenfotografin kann leicht Ärger wegen eines Fotos bekommen. Geht sie vor Gericht, ist sie dem Geschmack des Richters ausgeliefert: findet der’s kunstvoll – ist das Bild rechtens. Findet die Legislative die Aufnahme blöd, ist der Fotograf raus aus dem Spiel, muss zahlen, darf nicht veröffentlichen.
Was schützt? Das Etikett Kunst. Zum Beispiel zur Sammlung der DZ-Bank zu gehören. Das bringt einen sicheren Status am Kunstmarkt, der ebenso hyperventilent und sensibel wie Finanzbörsen tickt. Damit ausgerüstet kann über Geschmack nicht mehr gestritten werden. Die dazu gehören, könnten richtig loslegen. Narrenfreiheit. Nur leider tun sie`s nicht. Beispiel Thomas Struth. Ein renommierter Fotograf, der dieses Jahr bei Sotheby’s für ein Bild den Spitzenpreis von 502.000 Euro erzielte. Seit Jahren sucht er sich Straßenkreuzungen rund um die Welt, und drückt den Auslöser. Reine Doku. Bilder, denen Transzendenz fehlt, Herz und Lust. Dabei dürfte er alles.