Alle Artikel in: Bücher

Ypsilon rising: Einmal mit alles bitte!

  Was machen diese Y-Kinder bloß, wenn mal kein Strom da ist? Vor zehn Jahren noch ging es uns als Eltern wie so vielen: um alles, was uns wichtig war, wurde gerungen. Also, um computerspiel-freie Zeiten (hatten trotzdem keine Chance gegen GTA, Warcraft, Hitman), um rücksichtsvollen Umgang mit Strom, Wasser, Essen (trotzdem keine Chance gegen Dusch-Séancen oder Burger vom Meckes), und Schule. Mit der kämpfte man sowieso, ob wie oder dass sie was Ordentliches auf die Beine stellt. Vor allem die Jungs standen ja immer in der Kritik. Und haben auch für die entsprechenden Aufreger gesorgt, denn: Mann, war das cool so. Voll verkabelt, immer was am Laufen… Leistung? Bah. Was sollte das geben? Und jetzt? Baut unserer seinen Bachelor mit 1,0. Bah. Hut ab. Und drei Tage später auf dem Airport wie zuhause. Inmitten der Freundescrew den letzen Check und: ab. Abgehoben zum Praktikum in Südafrika… Nehmt das, ihr drei bis fünf Gymnasiallehrerfuzzies, gegen die ich damals bloß deswegen nicht mit Glossen geschossen hab, weil es dann echt persönlich gekommen wäre. Was treibt die …

Gelesen: Das große Los

Dieses zärtliche „Liebes“ als Anrede spukt noch durch meinen Kopf. Erst dachte zwar: Zu intim, ich luns doch nicht in fremde Tagebücher – und blätterte weiter. Doch am Ende hat mich genau diese Geschichte am meisten berührt, die ich nicht ganz gelesen hatte: Dieser Brief der Autorin an sich selbst als junge Frau. Ein zentrales Stück Reise, davon gehe ich aus. Denn: wer war man denn damals? Das junge Ich, auf dem das heutige basiert, umarmen können; es mit einem Abstand von 20, 30 Jahren betrachten… Wer dann sagen kann: „Liebes“… Gut. Auch sonst hat sie mir in den letzten Wochen immer mal einen kleinen Satz mit auf den Weg gegeben, manchmal supersimple Anmerkungen wie „Sich vom Leben überraschen lassen“. Dafür sei es nie zu spät und niemand zu alt. Man muss aber dafür eine Tür öffnen, die im Alltag wohl oft aus „Sicherheitsgründen“ versperrt ist, aus Bequemlichkeit ungeölt und verklemmt, oder die man sonstwie nicht aufkriegt, weil der Status: müd und abgelascht heißt. Für alle, die das Buch nicht kennen: Meike Winnemuth, Hamburgerin, sowie …

33 Shades of Green – Auftanken im Stadtgarten

  Vom Glück des Kindischseindürfens im Garten schreibt Eva Demski. Kindisch? Aber ja! Oder was sonst soll das sein, wenn ich etwa kiekse „Komma gucken!“, nur weil sich, parbleu, mitten aus den Lanzenschwertern meiner Iris, urplötzlichst, weil bis eben unerkannt, eine flach gefaltete Blüte schiebt. So geschehen im Mai. Ja, da werde ich ein bisschen schwachsinnig vor Freude. Schließlich hatte sie drei Jahre nicht geblüht. Dazu blieb mir sogar noch eine Spannungsfrage: Gelb oder blau? Denn: eine meiner beiden Iris-Töpfe wurde mir während deren Herbstruhezeit aus dem Treppenhaus geklaut. Doch zum Glück hilft so ein Garten, versichert Demski, gegen Ärger und Grübeleien gleichermaßen. Sogar die Erderwärmung lässt sich vergessen, schließlich geht es hier um Verantwortungsübernahme: „Gießen. Mich. Jetzt.“ Eine Aktivität, bei der sich sogar krass verzwirbelte Synapsen entspannen – auf dass später und tatsächlich auch globales Denken wieder flutscht. Versteh gar nicht, weshalb ich Demskis Gartengeschichten erst jetzt für mich entdecke. Wohl, weil Gartenbücher mich eigentlich wenig locken. Jedenfalls die Sorte, die sich mit perfekt gestylten Bildern zum Wennmirsonstnichtseinfällt-Geschenk anbiedert. Hochglänzende Langeweile. Bisher gab es …

Gelesen: Ein Krähenbuch

Mangel an Spiritualität? Protestantische Verbissenheit? Dass Westler Krähen böse und unausstehlich finden, könnte an deren unentspannter, ewig nach Schuldigen suchender Geisteshaltung liegen, vermutet Cord Riechelmann in seinem neuen Buch Krähen – ein Portrait. Nur bei uns Europäern und unseren Nachfahren in den USA nämlich sind Krähen und Raben (der Autor erklärt, dass es da keinen Unterschied gibt) als Unglücksbringer oder „Raubzeug“ verschrien – und werden dafür bis auf den Tod verfolgt. Vielleicht ist es auch die Farbe schwarz, das seltsame Hüpfen oder ihre unkontrollierbare und unglaubliche Gewitztheit… Ein geradezu ehrfürchtiges Verhältnis zu Krähen oder Raben haben dagegen asiatisch-indigene Völker. Das Buch öffnet ein märchenhaftes Fenster zu fremden unbekannten Krähenmythen. So glauben etwa die Inuit, dass Raben das Licht erschaffen haben, indem sie Silberstückchen an den Himmel warfen. Klar, wer derart wichtig für das Leben ist, den verfolgt und tötet man nicht. Ein Sündenbock dagegen, der Pest und Tod übers Land bringt, hat rund um die Uhr zu büßen. Man kann dieses mit zahlreichen Anekdoten und Fakten sowie weiter führenden Lesehinweisen gewürzte Vogelportrait wohl als Akt …

Lesestoff: Dann press doch selba…

Apfelgrün und pink rutschte mir diese unvermutete Buchsendung in die Hand: „Dann press doch selber Frau Dokta!” Geschrieben von der “furchtlosen Frauenärztin” Dr. Josephine Chaos. Natürlich dachte ich sofort an die „unerschrockene Lehrerin“ Frau Freitag. “Chill mal Frau Freitag” habe ich an einem Stück gelesen. Schon bevor es rauskam fand ich den Titel so witzig, dass ich es unbedingt haben wollte – aber dies hier? Hm. Kein Cover für mich. Gekauft hätte ich das nie (apfelgrün und pink, sechsarmiger Ärztewitz – Brr). Rezensieren wollte ich es auch nicht, denn: beim xten „Ächt jetzt“ oder „Nee, ist klar“ auf den ersten Seiten hatte ich schon fertig. Doch dann war da eines Abends die Wahl zwischen ABC (Arbeiten, Besaufen, Computerspielen). Ich wählte D wie Dr. Chaos – und lachte Tränen. Über Schwester Notfall, Fancy Nancy die so metzelgeile wie arrogante Chirurgin und Dr. Sandmann, den guten Anästhesisten, den nur eine 2020-prozentige Ärztin so aus dem Takt bringen kann, dass er brüllt. Dr. Chaos beschreibt cool und mit verdammt viel Drive absurde bis melodramatische Klinikalltage. Wie sturzbiedere Frauen …

Nur im Weltall ist es wirklich still – Buchkritikfeature

Am Anfang war das Ohr   Lärm ist immer und überall. Am Streit über Lärm und Ruhe verdienen Rechtsanwälte satt – aber gibt es auch eine Kultur von Lärm oder Stille? Die Autorin Sieglinde Geisel hat sich auf die Suche begeben, Zitate lärmgeplagter Menschen geschürft und einen Essay über dieses Thema verfasst. Sehr lesenswert. Kaum hatte ich „Nur im Weltall ist es wirklich still“ in der Hand, konnte ich es nicht mehr weglegen. Und Diverses dazu gelernt: Entfremdung vom selbsterzeugten Schall etwa ist Schizophonie (iPod und Co.)… Was ich durch eigene Recherche für einen Text schon gelernt hatte: kein Lärm ist gleich. Sie macht das deutlich durch eingestreute Zitate oder vielmehr Antworten auf die Frage, was schlimmer Lärm ist. Wer hier antwortet steht nicht dabei, vielleicht weil das immer gleich persönlich wird… Spannende Idee jedenfalls, die ich gleich an ein paar Willigen ausprobiert habe – unglaublich, was die Menschen alles antworten: Krähengekreisch, Bahnbremsenquietschen, Computerspielgeräusche aus dem Nachbarzimmer. Die offizielle Definition gab mir Lärmforscherin Brigitte Schulte-Fortkamp: „Lärm ist belästigender, unangenehmer Schall.“ Schon klar, dass ein Motorradfahrer …

Das Buch: Vom Schlafen und Verschwinden

Zeichen, Zettelsammlungen, ein flaches Z in der Luft – die ersten zwölf Seiten sind geheimnisvoll und verwunschen. Wie zufällig hingeworfener Sand, eine Häufung von Andeutungen und Worten, deren Inhalt man erst später richtig verstehen wird. „Alles ist voller Zeichen“ – lautet der erste Satz, es endet damit, dass alle Zeichen verschwinden. Dazwischen entfaltet und verwebt die Autorin die Geschichte zweier Frauen, Ellen und Marthe. Sie erzählt von Schlaf- und Rastlosigkeit, von Erinnern und Vergessen, und von vielfältigen Variationen, sich zu entziehen. Die Hauptprotagonistin und Icherzählerin ist Dr. Ellen Feld. Allein erziehende Mutter und Schlafforscherin. In einer einzigen, 280-seitigen, schlaflosen Nacht reflektiert diese ihr Leben. Wie sie sich in .. der Vorhölle des Todes? des Verschwindens? auf jeden Fall .. zermürbender Schlaflosigkeit wälzt – das ist der Rahmen. Währenddessen trinkt sie ab und an Wasser, betrachtet die schlafende Tochter, spürt die Vibrationen der Hamburger Untergrundbahn, registriert das Fortschreiten der Zeit über die Stadtgeräusche sowie die Schattenlamellen der Jalousie, kommt immer wieder darauf zurück, dass sie unbedingt ihr Buch über die Schlaflosigkeit beenden muss – spinnt die …

Jetzt oder nie: mehr Empathie!

Rezension: “Miteinander. Wie Empathie Kinder stark macht.” Dieses Buch ist eine Art Plädoyer für mehr Herzenswärme, ein Empathie-Kompass vielleicht. Beides grundlegend für eine gute Erziehung und beides Dinge, an denen es fehlt. Da sind sich viele Menschen einig, die mit Kindern zu tun haben – forschende Psychoanalytiker aus dem Frankfurter Sigmund-Freud-Institut, Neurologen wie Gerald Hüther oder eben Jesper Juul. Wenn es Auffälligkeiten gibt, so lässt sich aus deren Erkenntnissen lernen: gestört sind nicht die Kinder, gestört und gespannt sind meist die Beziehungen. Das Buch umfasst Übungen zur Entspannung, auch mit Kindern. Und kleine lebenskluge Abschnitte, die Mut machen sollen, sich öfter mal in andere reinzufühlen. Bauch- und Herzensgefühle also da walten zu lassen, wo es Sinn macht – und: all das mal einfach auszuprobieren. Es dürfte Leute abschrecken, die es nicht so haben mit fernöstlichen Versenkungsübungen. Bewusst werden die Religionen herausgehalten, was das Ganze aber wie einen Mischmasch aus Yoga, Taoismus und Reformpädagogik wirken lässt. Und, nach all den bereits vorhandenen Büchern von Juul wie einen Kessel Jesper-Juul-Buntes. Ich schätze an an ihm, dass er …

“Food Crash” oder: Schwanz ab? Nein danke!

Lesen wollte ich das Buch Food Crash unbedingt, weil drin stehen soll, dass und wie ökologischer Landbau je Hektar und Jahr 0,4 Tonnen CO2 bindet, während ein konventioneller Hof auf der selben Ackerfläche 0,6 Tonnen CO2 freisetzt. Autor Felix zu Löwenstein belegt dies auch tatsächlich mit Studien und diversen Kostenaufrechnungen. Denn es ist ja ähnlich wie bei Auto versus Bahn: Die meisten schimpfen auf die Bahnpreise und rechnen vor, wie viel billiger sie mit dem Auto fahren – vergessen aber regelmäßig, dass ihr Auto auch einen Anschaffungspreis hatte, Steuer, Versicherung und Instandhaltung kostet. Auf Bio übersetzt wären das etwa die Kosten für Umweltverschmutzung und CO2-Ausstoß, die von der Allgemeinheit zu tragen sind. Grundsätzlich fordert Löwenstein: Bio für alle. Also für alle sieben, bald neun, Milliarden Menschen auf der Welt? Ich bin dafür – aber wie soll das gehen? Anders gefragt: Pervertiert ein solches Vorhaben nicht den Grundgedanken des Ökolandbaus hin zu „Massenbio“? Massenbetrieb heißt für mich, Tiere zusammenpferchen, ihnen Schwänze, Schnabelspitzen und Hörner abschneiden, damit sie sich nicht gegenseitig umbringen, und mit Medikamenten füttern, damit …

Buchkritik: Gefühle machen Geschichte

Wie kollektiver Hass wächst Mit Gefühlen den Nationalsozialismus oder den Israel-Palästina-Konflikt erklären? Der Ansatz von Luc Ciompi und Elke Endert, geschichtliche Ereignisse mit kollektiven Stimmungen zu verknüpfen ist ungewöhnlich und der im Titel angekündigte Brückenschlag „von Hitler bis Obama“ mutet fast wie ein populistischer Verkaufstrick an – doch die Autoren untermauern diesen Bogen ohne jede Effekthascherei. Im Gegenteil. Selten wurde Hitlers Erfolg bei den Deutschen, der tragische Israel-Palästina-Konflikt oder die Kulturkluft zwischen Islam und dem Westen so nachvollziehbar erklärt. Basis des Buchs ist die „Affektlogik“, die Luc Ciompi 1982 begründete und kurz gefasst besagt, dass kein Denken ohne Einfluss von Gefühlen stattfindet, kein Fühlen wiederum ohne theoretischen Hintergrund. Neu daran ist der kollektive Aspekt. Ungewohnt ist die Gefühlsperspektive in diesem Zusammenhang vor allem deshalb, weil Historiker, Politikwissenschaftler, Soziologen und Psychologen selten zusammenarbeiten. Ciompi und Enderts Ziel ist es, Erkenntnisse aus diesen Disziplinen zu verknüpfen. Grundthese: Emotionen sind verkannte Energiepotenziale und treiben als mehr oder weniger bewusste Motoren alle psychosozialen Ereignisse an. Die Kurzformel: Sympathie vermag das kollektive Denken zu beflügeln, Hass schaltet es aus. Der …