Gesellschaft
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Bin denken

Kleiner Denker
 
Die Zeit, ein Gefängnis? Nabokov schrieb: „Anfangs merkte ich nicht, dass die Zeit, die anfangs so grenzenlos scheint, ein Gefängnis ist.“ Steht in der Einleitung seines Buchs Erinnerung sprich. Als Kind sei die Zeit ihm noch wie eine Ewigkeit vorgekommen. Und schon hab ich mich festgelesen. Dabei wollte ich nur noch mal eben reinschauen, bevor ich das Buch, das vor mehr als zwanzig Jahren leihweise bei mir gelandet ist, wieder zurückgebe.

Damals erschien auch mir die Zeit noch wie ein Meer, in das man sich stürzen kann. Wir hatten Langeweile damals, drei Wochen Ferien am Stück. Wir bastelten Dinge aus Strandgut ohne Workshops zu besuchen. Selbst wenn es diese schon gegeben hätte, wären wir niemals auf die Idee gekommen, unsere oder die Kreativität unseres Kindes anleiten zu lassen. Ein Artikel dauerte mindestens zwei, besser vier Wochen – und ebenso lange brauchte ich, mich davon zu erholen. Ich konnte ihn dann fast auswendig.

So viel Zeit ist schon lange nicht mehr für einen Text. Kollegen würden mich unprofessionell schimpfen, so lange wie das bei mir immer dauert und wie viel ich recherchiere, auch wenn ich nur ein Xtel davon brauche. Muss sich ja rechnen alles. Am Ende des Tages also Kassensturz oder in Schönheit untergehen. Ich halte es mit Woolf. Wie vertraut war mir diese Szene aus dem Film „The Hours“ (Von Ewigkeit zu Ewigkeit), als Virginia die Treppe herunterkommend zu ihrem Mann sagt: „Liebling, kann sein, dass ich jetzt den ersten Satz habe.“

Aber zurück zur diesem rotbraunen Buch mit dem intellektuell schwarzen Rand oben und der silbernen Schrift: Erinnerung sprich. Doch, ich gebe Bücher zurück, und es dauert sonst nie so lange. Echt. Bei Nabokov lags am Scheitern einer Ehe und dem darauffolgenden Verschwinden der Besitzerin aus meinem Lebensfeld. Und dann Jahre später, war ausgerechnet facebook der virtuelle Ort, an dem die Besitzerin und ich uns wiederbegegneten. Und auch noch ausgerechnet bei einer Diskussion auf der Timeline ihres Ex.

Die Timeline, ein Gefängnis? Nabokov war 67, als er das Buch geschrieben hatte. Noch elf Jahre von seinem Tod entfernt. Was mag er später über diesen Satz gedacht haben? Was denkt man, wenn der Tod in die Ritzen des Hirns kriecht? Wenn der so nahe rückt, dass man weiß: man ist die Nächste. Nur wann weiß man nicht, jedenfalls nicht, wenn man dem Tod die Zeit überlässt. Geht Denken dann noch? Wenn ja, wie?

Denken, braucht Zeit und den Dialog mit sich selbst, Hannah Arendt hat das gesagt. Von Trotta zeigt in ihrem Spielfilm über diese Denkerin so wunderbar, wie das aussehen kann: Allein. Im Zwiegespräch mit sich selbst, rauchend auf dem Sofa. Augen geschlossen oder in die Ferne blickend. Auf einen Ort, der sowohl innen als auch außen sein könnte. Und es ist still um sie. Kein Radio, kein Fernseher. Klar, ein Film das, und aus einer Zeit ohne Dauerberieselung aus Medien- und Sozialkanälen. Aber es sieht richtig aus.

Denken heute? Seh schon die Titelzeile Denken 4.0. Wie als ob. Wir eingestöpselt wären und die Denkspiralen interaktiv glühten. Einsam sein. Gilt heute als Manko. Da hat jemand gelost, ist so komisch, ein Freak oder kann nicht sozial. Dabei braucht doch auch der moderne Mensch den Fokus um Denken zu können. Muss Fragen stellen, verdammt gute, ordentlich durchdachte Fragen. Davon werden die Antworten abhängen. Vom Fokus.

Vom Festhalten. Auch am Respekt. Obama drehte auf, übertönte bei einer Wahlveranstaltung seine Anhänger: Hey, hey, hey! Hold up! Focus! Focus!, als sie einen Trump-Fan bepöbelten, statt nachzudenken. Vielleicht das Beste, das Trump anstößt. Dass die Leute wieder wild herumdenken. Schade, dass es nicht vorher schon losging, aber vielleicht ist auch das ein Effekt der Moderne. Dieser Überdruss. Dieses Ferngesteuertsein.

Was will der moderne Zeitgenosse denn noch selber tun? Hemden Bügeln? Nö. Pfandflaschen zurück? Putzen? Auto waschen? Rausgehen? Kochen? Alles Nö. Dienstleister oder Roboter ahoi. Biste nicht mehr weißt, wie‘s geht. Wo war noch mal der Knopf für den Nebelscheinwerfer? Wie kriegt man nochmal raus, ob was wahr oder falsch ist? Ah – die Lügenpresse! Und jetzt so viel Protest. Wahrscheinlich derer, die sowieso den Mund aufmachen. Die anderen schweigen und finden: Der Trump hat recht. Weil sowieso alle Politiker link sind. Lügenpolitik!

Oder um nochmal Arendt zitieren – und zwar das aus einem wunderbaren Essay von Kai Strittmacher, in dem er über die aktuelle Gedankenfreiheit in China und den USA nachdenkt: „Wenn dich jeder immerzu anlügt, ist die Folge nicht, dass du die Lügen glaubst, sondern vielmehr, dass keiner mehr irgendwas glaubt.“ (“Hirsch und Pferd” SZ vom 2.2.17) Verblödung ist das Ergebnis. Ferngesteuerte Verblödete, die sich in totalitären Regimen bestens linken lassen. Dann aber, dann ist Zeit wirklich ein Gefängnis.

 
 
 

2 Kommentare

    • Merci bien, Pat!
      Maybe I should translate all my posts. In this one I write about time, thinking and how transferring work to robots or service providers makes us losing our senses and minds.
      As to thinking I like how the film Hannah Arendt (by Von Trotta) shows that time is needed to think about whats happening around you. Or as Arendt said, thinking is a lonesome process, a dialogue with yourself. And what she wrote about lies of autocrats is just what we expereince now: Spreading more and more lies has not the effect, that people start to believe in lies, but that they start to believe nothing more at all. And that makes it easy to manipulate them.
      Best Regards, Sylvia

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