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Wechselbilder – Trompe-l`ésprit

 

Faszinierender Gedanke, dass der effektivste Zensor im eigenen Hirn sitzt. Alles, was an Reizen und Infos auch nur unseren äußersten Blickwinkel streift, wird permanent gescannt, mit vorhandenem Datenmaterial abgeglichen und auf Plausibilität geprüft. Bei Abweichung: Oha, was Neues oder Alarm! Gefahr. Wir bewegen uns in und mit Bildern. Wir denken von uns und von den anderen in Bildern. Seit je, um schnell handeln zu können. Damit der Oberstübchenalarm aber nur im Bedarfsfall schrillt, gibt’s Vorgefertigtes. Schablonen, Urteile , Schubladen. Hilfreiche Kategorien, mit denen sich die Lage ratz-fatz einschätzen lässt. Energiesparmaßnahme das. Verwirrend wird’s erst, wenn das Bild zum Wechselbild kippt. Das eigene Denken sich der Einstellungen bewusst wird…

Einstellung eins – Stop Motion

Im Wald herrscht Anarchie. Keine rote Ampel, keine weißen Streifen, Grün halt. Nur die nötigsten Regeln. Befreiend irgendwie, trotzdem muss man die Pfade teilen. Was tun als Radfahrer, wenn der Waldläufer mitten auf dem Weg träumt? Rechts vorbei? Links? Die offizielle Variante: Klingeln, damit der andre Platz macht. Waah! Schreit der Fußler erschreckt, torkelt genau vors Rad, hasserfüllt, knapp dem Infarkt entronnen. Also, umrunden beim nächsten Mal. Nervenschonend, klingellos. WAAHH!! Schreit sie und zetert erbost: Ham se keine Klingel??!! Mit der Zeit sortiert man nach Rückensicht: nett, verbiestert, dämlich. Nächste Hürde: Hunde. Kläffköter an Ausziehleinen, Hirtenhunde mit Hinterherziehleine, Kratzbürsten mit Radfahrerallergie – oft potenziert mit knurrendem Mensch. So viel zum eingefahrenen Muster. Und jetzt, Film ab: Mutter, Kind und Hund voraus. Sieht aus wie Psst! und vorbei. Aber auf einmal schreit die junge Mama los: „Hallo! Sie-he-da, ham Sie ne Klingel??“ Nee, oder? Normalerweise bleib ich Poker, trete schleunigst ab, sonst erschieß ich noch mal so ne blöde Kuh mit der Luftpumpe. Nee, oder? Ich bleib stehn, jetzt will ich’s doch mal wieder wissen. WAS Denn??!! Und Cut, Kipp, Klappe, die Erste: „Ach, das ist nett. Könnten Sie bitte noch mal an uns vorbei fahren und klingeln? Der Hund soll sich an Radfahrer gewöhnen“, blinkert sie freundlich – und Touché.

Einstellung zwei – Last Minute

Eine Woche nachdem sie gegenüber eingezogen waren, standen sie vor der Tür: „Dürfen wir reinkommen, einen Kaffee trinken?” Seltsame Art sich vorzustellen. Äh, was? Ich schrieb grade, den Abgabetermin im Nacken. „Äh, Nein danke“, oder was auch immer ich gesagt habe, und Türzu. Und dann lebten sie da. Guten Morgen, Guten Abend. Fete und laut, aber selten. Silvester auf dem Dach. Sonntags sah ich manchmal ihre niedlichen Füße in rosa Flipflops, die feuchten Haare ins Handtuch gepackt. Oft stand die Tür ein Stück auf, als käm gleich noch wer oder als gingen sie gleich. Seltsam schon, aber hier oben unterm Dach warn ja sonst nur wir. Sie eher taff. Er? Keine Ahnung. Also, Nachbarn wie du und ich. Ham se mal ne Zwiebel? Aber geredet haben wir nie. Irgendwann unten an der Straße ausgesetzte, weiße Geranien (eine hab ich noch), und dann ein Umzugswagen. Aber nur für die Nachbarin. Ich seh vom Küchenfenster aus zu und staune. Wieso hilft er ihr so nett, wenn sie sich trennen? Paar Wochen später klingelts. Haben Sie Packband? Jetzt zog er auch aus. Klar hab ich – und auf einmal reden wir. Und ich erfahre, dass der Mann Koch ist, die Frau vom Hotelfach. Dass sie jetzt in Liechtenstein ist, weil’s dort einen coolen Job gab, hier aber nix – und dass das Paar über Webcam kommuniziert jetzt; wie verdammt schwierig es ist, eine Stelle als Koch zu kriegen und die Wohnung für ihn allein leider zu teuer. Wie der wohl kocht? Hätten wir mal zusammen machen können. Nett. Nette Nachbarn waren das.

Einstellung drei – Action!

Los ihr Muskeln, ran an den Berg! feuert die innere Stimme. Von allen Nachausewegen mit dem Rad ist der hier der steilste… und ausgerechnet im oberen Drittel muss ich jetzt ausweichen: Papa mit Kinderwagen in Überbreite. Zwillinge, noch ziemlich lütt. Gleich ist der Anstieg geschafft. Im Vorüberfahren registriere ich Einen, der was an eine Schilderstange klebt und sich dann zum Zwillingspapa gesellt. Ich passiere den Aufkleber, hole Luft für die Zielgerade – da funkt vom Mülleimer an der Ecke ein zweiter Sticker derselben Sorte in mein Hirn. Vom Briefkasten daneben schreit der dritte: „NPD – und Sarrazin hat doch recht“. Das darf doch nicht… So ne scheinheilige Scheiße, Kinderwagenschieber, aha… Die Pedale sind in Schwung, der Lenker zeigt nach Hause, aber die innere Stimme rüttelt: Tu was! Nicht nur blöd gucken! Also kehrt. Runtergerollt zu den beiden, wobei die steile Abfahrt dem rasanten Anstieg des Adrenalinspiegels entspricht. „Wohnen Sie hier?“ Der Zwillingsvater guckt ablehnend, der andere antwortet „Nicht wirklich“. Ha. „Wir wollen das hier nicht!“, sag ich. Der Kleber – nettes Gesicht, treue Augen: „Wir machen das ja wieder weg.“ Der andre sehr abweisend. Will weg. Wie? Ich besteh drauf: hier nicht, so nicht, unerwünscht – der Kleber wiederholt beruhigend „Kinderspiel“ – „später wieder weg“. Auf einmal Kipp – und Klappe, die zweite: Nicht NPD-Aufkleber hat er in er Hand, sondern gestreiften Tesarollen. Zeichen klebt er. Kinderrallye. Endlich kapieren wir beide, was los ist. Wir lachen. „Ich hatte überlegt, die abzumachen“, sagt er. Alles gut. Aber innerlich zittere ich noch immer wegen dieser dreisten Kerle unter uns.

 

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