Gesellschaft, Menschen
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Tödliche Störungen

 

Sich einlassen. Leben. Nicht neben-, sondern mit-einander. (Dass das die Atmosphäre entscheidend positiv verändern und prägen würde, darin hab ich ja schon hier dem Autor Jesper Juul recht gegeben). Warum tun sich die Leute so schwer damit? Wer drauf achtet, wird staunen (auch beim eigenen Dampfablasssen). Verrückt, wie unterirdisch primitiv Menschen sich im Alltag benehmen, sofern sie sich nur sicher und distanziert genug glauben. Nach dem Motto “Mir doch egal!” Soll mir bloß nicht quer kommen, der Fuzzi, Dummlack, die Tusse. Mir reicht’s ja so schon. Zuhören, wenn andere reden? Mir scheint, viel zu viele sind so bedürftig nach Aufmerksamkeit, dass sie nur darauf aus sind, selbst zu Wort, zu ihrem Recht, in den Mittelpunkt zu kommen – anstatt zu sich selbst. Kurz: Ich zuerst.

Wird man erwischt, redet man sich gern raus: Ich wars nicht. Oder: Nicht so gemeint (die schlimmste Ausrede von allen). Kleiner Ausrutscher, Sorry, Ging mir grad nicht so gut – und so fort. Leute, die regelmäßig mit vielen Menschen zu tun haben – Sachbearbeiterinnen, Verkäufer, Tierarztassistentinnen, Schaffner – registrieren sehr fein die stetig sinkende Grundfreundlichkeit und eine ebenso sinkende Grundhemmschwelle, sich mal richtig daneben zu benehmen. Den anderen zu belehren und ihn dabei kurzerhand für dumm – und sich selbst für schlau zu halten. „Es wird immer schlimmer“, hab ich in letzter Zeit oft gehört. Dienstleistersklaven, so kommen sie mir vor, ob an der Kasse, im Kino oder in der DOB-Abteilung. Sie räumen auf. Abfall in der Umkleide, in die Ritzen gedrückt, auf T-Shirts oder Büchern, an denen sich außerdem jemand die Dreckfinger abgewischt hat. Sachen, die man nachher natürlich nicht kauft, weil sie ja dreckig sind.

Immer weiter. Immer heiter neben der Spur, während in Griechenland, wo die Krise den Alltag beherrscht, die Leute zusammenrücken und einander helfen. Ein Boot braucht viele Hände, um einen Sturm zu überstehn. Die glücklichen, gerade oben schwimmenden Westeuropäer hingegen bauen schamlos Sand- und Wagenburgen, sperren Unliebsame aus – und halten sich gern für was Besseres. Wollen nichts zu tun haben mit Ausländern, Tätowierten, Armen oder sonstwem, der nicht ins Raster passt.

Der neue deutsche Trend zum Ruppigsein und Egozentrismus entspringt dabei durchaus unserem perfektionierten Bildungsalltag. Schulen werden von Eltern konservativst bedrängt, in der Hoffnung, das bringe ihre Kinder ganz nach oben. So mühen sie sich allen Reformen zum Trotz Absolventen vorzuweisen, die möglichst wenig aufmucken, schnell und unkompliziert ins Arbeitsleben integriert werden können. Leider gehen dabei gute Lehrer, Hingabe und Mumm verloren. Mumm hat mit Charakter, Leidenschaft und Liebe, Wut, Zärtlichkeit und Selbstbewusstsein sowie Hartnäckigkeit zu tun. Mit der gesamten Klaviatur einer Persönlichkeit und ihrer Gefühle, nur nichts mit Angepasstheit. Mit echter Hingabe werden kühne, manchmal auch schräge Dinge gedacht, gezeichnet, gemacht. Die aber lässt sich nicht in Notenraster, Zentralabiaufgaben und ähnliche, fein geregelte Fertigkategorien pressen, die aus Kindern Hasenstallhühnchen macht. Nichts, was sich statistisch nicht erfassen lässt, passt da durch. Also wird nicht situationsangemessenes Verhalten trainiert, sondern: Bravsein, Nichtrauchen, Law. And. Order.

Schon der erste Beitrag auf diesem Blog (Geld oder Leben) – vor gut einem Jahr (!) – galt diesem Thema. Wie ein Blitz hatte mich der Tod einer Nigerianerin getroffen, die wegen 10 Euro starb. Heillos, was da zwischen einem Verwaltungsmenschen und einer Verzweifelten, Verbitterten vielleicht auch, aus dem Ruder lief. An einem helllichten Jobcentertag in Frankfurt am Main. Einfühlsamkeit war das Fremdwort – wüsste gern, wie das auf Nigerianisch heißt. Dagegen hilft wohl nur, da geb ich Juul wieder Recht: Empathie. So früh wie möglich oder immer wieder neu zu lernen. Damit man durchdrungen wird und sie drauf hat in jeder Lebenslage. Nur wer seiner selbst sicher und der eigenen Gefühle bewusst ist, kann wohl andre anders sein lassen.

Ich denke heute an die Tochter der Toten. Sie ist jetzt 15.

 

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