Ausstellungen, Fotografie
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Andy Goldsworthy: Die Schönheit vor dem Kollaps

Calm | knotted seaweed stalks | stuck into muddy lake bottom | ends pushed into hollow stems to make screen, Derwent Water, Cumbria, 20 February 1988 © Andy Goldsworthy


 

Das sollen tolle Bilder sein? Ich bin enttäuscht. Sind extra nach Rüsselsheim zur Austellung gefahren – Goldsworthy zum ersten Mal in Deutschland!! – und jetzt? Stehe ich vor großformatigen Fotos, die zusammengefügt wie ein Puzzle oder Mosaik einen Baumstamm zeigen, zu dessen Füßen ein kreisförmiges, schwarzes Loch gähnt. Hm. „Das ist aber kein Bild! Nur ein Beweisfoto“, würde Pat zu mir sagen, hätte ich es gemacht. Aber dann funktioniert es doch, treffen sich mit Mal Ausstellungskonzept und Landartfoto. Im nächsten Raum geht es endlich auf, das Goldsworthy-Fenster. Saugt uns in eine Welt, weit und atemlos. Berührt uns mit Bildern wie das hier: See mit filigraner Installation aus Schilf. Drumherum eine traumverlorene, unberührte urlandschaft. Oder dieses, auf dem ein spitz zulaufender grauer Stein im Morgenlicht zu sehen ist, darauf balancierend ein anderer Stein, rund, mitten auf der Spitze. Hält gerade so auf diesem Foto, man glaubt ihn taumeln zu sehen kurz bervor er ins nächste Bild fällt. Im Fallen eine Möwe, die sich fortschwingt. Auf den nächsten Bildern Kreisbögen aus Schneeplatten. Und Licht. Am Südpol. Jetzt. Jetzt endlich seh ich Goldworthys Kunst.

Im nächsten Raum dann mit voller Wucht in kongenial bewegten Bildern. Der Film: „Rivers and Tides“ von Thomas Riedelsheimer über Andy Goldsworthyläuft hier in der Endlosschleife. Mit einem Zoom schwimmemn wir mitten in seiner Kunst. Der Mann ist einer, der den Raum zwischen den Gezeiten und Zuständen kennt, der Eiszapfen in Stücke bricht, anlutscht, zu Spiralen formt und, in der Morgensonne platziert, zum Leuchten bringt. Gebannt sitzen wir in seinem Kreidekreis aus schwarzen Farnstielen. Wir alle, die in der nächsten Stunde den Raum betreten, mit Ausnahme der Blinden, können uns nicht satt sehen, an seiner Art zu arbeiten. (Und nicht satt hören, denn der Komponist Fred Frith hat den Fluss aus Steinen, Wind, Licht und Blättern mit den Noten einer Regenbogenschlange nachgezeichnet.)

Fotos mache er nur, damit man seine vergänglichen Skulpturen aus Eis, Staub, oder Ästen, die es oft nur Tage, Stunden oder gar Sekunden lang gibt, überhaupt sehen kann. „Time is a great teacher“, versichert der verrückte Schotte, steht am Strand und schichtet Steinplatten aufeinander. Glücklich wie je ein Sisyphos, die Flut im Nacken, während er seinen Steinkegel baut. Viermal bricht alles wieder zusammen, wie einem Kleinkind der Klotzturm und viermal sieht man ihm zu, wie er das verdaut. Kein Fluch, nur ein Schrubben des grauen Wuschelkopfs. Sieht man noch öfter im Film. Er sagt, „When I work, I often get to the very edge of a collapse and that is a very beautiful balance.” Yes. Aber, als der Kegel erst mal steht, kann uns nur der Film zeigen, wie der steinerne Hüter dieses Strands versinkt – und wieder aus der Flut steigt. Im Sonnenaufgang, wie eine Sphinx.

Erst seit er nicht mehr permanent umzieht, seit er in dem kleinen Kaff irgendwo in Schottland lebt, in dem all seine Kinder geboren sind, könne er sehen und verstehen, wie die Welt sich verändert, wie sie funktioniert. Die Kamera folgt dem Outdoormann mit den zerstochenen Fingern beim Löwenzahnblütensammeln am Bachrand, beim Plaudern mit einer Nachbarin, zum Fluss. Dort kürzt er die Stengel, füllt die Blüten in Steinwasserlöcher, verwandelt sie in gelbe Flächen. Farbfelder, die wogen, Miniseen. – Für mich das Allerwunderbarste: ein Band aus aneinandergehefteten Haselnuss- oder Lindenblättern. Zur Spirale gelegt in einer Flusskehle. Die Blätterschlange zittert, entrollt sich, folgt in unfassbarer Anmut dem Wasserlauf. Dieser Zeitschüler lehrt uns schottisches Zen – ein Verrückter, ein Kindskopf. Ein Poet.

Hingehn! Andy Goldsworthy: Working with Time
in den Rüsselsheimer Opelvillen, noch bis 26. August.
Ansehn! dort oder auf DVD: Rivers and Tides, absolut Medien 2003.

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